Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
ist, nachvollziehen, zumindest in der Fantasie. Bei unserem Gespräch habe ich versucht, seine dunkle Seite zum Vorschein zu bringen.« Banks schüttelte sich leicht.
»Was meinen Sie, Sir?«
»Jeder hat seine dunkle Seite, Susan. Müssen Sie nicht bei Owen Pierce an Ihre eigene denken?«
Susan machte große Augen. »Nein, Sir, ich glaube nicht. Ich finde, wir haben einfach unseren Job gemacht. Wir haben die Beweise, wir haben einen Verdächtigen in Untersuchungshaft. Ich denke, wir sollten es dabei belassen und weitermachen.«
Banks hielt einen Moment inne und musste dann lächeln. »Sie haben natürlich Recht«, sagte er. »Aber wir haben noch eine ganze Menge Arbeit vor uns. Was würden Sie von einer Reise nach London am Montag halten?«
»London? Ich, Sir?«
»Ja. Ich würde gerne diese Michelle aufsuchen, um mal zu hören, wie ihre Version der Geschichte lautet. Er hat sein Bestes getan, um diese Beziehung vor uns geheim zu halten; das muss seine Gründe haben. Außerdem hätte ich gerne Ihre Eindrücke, von Frau zu Frau sozusagen, wenn das nicht zu sexistisch klingt.«
»Klingt es nicht, Sir. Natürlich, ich würde sehr gerne mitkommen.«
»Gut.« Banks schaute auf seine Uhr und trank sein Pint aus. »Ich gehe jetzt lieber nach Hause. Schlafen Sie morgen gut aus. Sie werden es genießen.«
Susan lächelte. »Das werde ich bestimmt, Sir. Gute Nacht.«
Banks zog seinen Mantel an, verabschiedete sich bei allen und ließ ein paar weitere Schulterklopfer über sich ergehen, als er durch das Gedränge zur Tür ging. Einen Augenblick lang blieb er vor der Market Street auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes stehen und beobachtete seinen Atem in der klaren, kalten Luft.
Heute war so viel passiert, dass er kaum die Zeit gehabt hatte, den klaren blauen Himmel und den Herbstwind zu bemerken, der die Blätter von den Bäumen fegte. Jetzt war es dunkel und seit Tagen sah man zum ersten Mal wieder die Sterne. Ein Vers aus der Aufführung der Eastvaler Laienspielgruppe vom letzten Monat kam ihm in den Sinn:
»Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in unseren Sternen, sondern in uns selbst.« Banks musste wieder an diese neblige Nacht auf dem Friedhof denken und fragte sich, was dort wirklich passiert war. Vielleicht würde er es nie erfahren.
Um zu Fuß nach Hause zu gehen, war die Nacht beinahe zu kalt, er hatte jedoch drei Pints getrunken, zu viel, um noch zu fahren. Er wollte sowieso einen klaren Kopf bekommen, sagte er sich. Mit klammen Händen setzte er seinen Kopfhörer auf und schaltete den Walkman in seiner Manteltasche an. Nachdem es eine Weile nur gerauscht hatte, fuhr er bei den ersten schrillen Tönen der lauten, verzerrten elektrischen Gitarre erschrocken zusammen. Er hatte ganz vergessen, dass er zu Beginn der Woche die Kassette von Jimi Hendrix eingelegt hatte, die ihn auf seinem Weg zur Arbeit aufwecken sollte. Seitdem hatte er seinen Walkman nicht mehr benutzt. Er machte sich lächelnd auf den Heimweg. Warum nicht? »Hear My Train a' Coming« war jetzt genau der richtige Song, Brittens War Requiem konnte er noch später hören.
* NEUN
* I
Am Montag, den 13. November, kam der um neun Uhr sechsunddreißig in York abfahrende Intercity um zwölf Uhr fünf im Londoner Bahnhof King's Cross an, mit zwanzig Minuten Verspätung. Ein Problem mit Weichen bei Peterborough, erklärte der Zugführer über die Sprechanlage. Nicht zum ersten Mal betrachtete Banks die trostlose, postindustrielle Landschaft seiner Heimatstadt mit einer Mischung aus Nostalgie und Schrecken. Peterborough. Ausgerechnet hier musste er herkommen. Immerhin hatte sich aber die Fußballmannschaft, deren Anhänger er in seiner Jugend gewesen war, wieder aus dem Tabellenkeller der Zweiten Liga nach oben gekämpft.
Gemäß der Wettervorhersage regnete es. Kein richtiger Schauer oder Sturm, sondern ein gleichmäßiger Nieselregen, typisch für den November, der den Eindruck machte, als wollte er für immer aus dem bleiernen Himmel fallen. Es hatte in Eastvale geregnet, als Banks und Susan am Morgen nach York fuhren; es hatte in York geregnet, als sie in den Zug stiegen; und es regnete in London, als sie am Oxford Circus aus der U-Bahn-Station kamen. Wenigstens war es ein bisschen wärmer geworden als am Wochenende: Anstatt eines dicken Wintermantels reichte ein leichter Trenchcoat.
Um die Angelegenheit zu vereinfachen, hatte Michelle Chappel am Telefon
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