Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
Inspector, würden Sie mit Ihrer Berufserfahrung nicht sagen, dass ein Krimineller, jemand, der gerade ein Verbrechen der abscheulichsten und brutalsten Art begangen hat, ein wenig mehr darauf bedacht wäre, seine Spuren zu verwischen?«
»So clever sind die meisten Kriminellen nicht«, entgegnete Banks. »Deswegen werden sie geschnappt.«
Die Zuschauer lachten.
»Mein Mandant ist jedoch keineswegs dumm«, erklärte sie nachdrücklich, ohne sich von der Unterbrechung stören zu lassen. »Ist es nicht äußerst unwahrscheinlich, dass er chinesisch essen geht und mit seiner Kreditkarte bezahlt, nachdem er einen Mord begangen hat? Ganz zu schweigen davon, dass er bei alldem einen leuchtenden orangefarbenen Anorak trägt. Warum sollte er so töricht sein, die Aufmerksamkeit in einer derart offensichtlichen Weise auf sich zu ziehen, wenn er das Verbrechen begangen hat, dessen er angeklagt ist?«
»Vielleicht war er verzweifelt«, antwortete Banks. »Vielleicht war er nicht bei klarem Verstand. Mr Sung hat ausgesagt, er führte Selbst...«
»Nicht bei klarem Verstand«, wiederholte sie mit einem wohl bedachten verächtlichen Unterton. »Ist es nicht eine Tatsache, Chief Inspector, dass diejenigen, die solche willkürlichen Verbrechen begehen, in Wirklichkeit bei sehr klarem Verstand sind? Dass sie nur selten gefasst werden, häufig nur durch Zufall? Dass sie mit größter Sorgfalt darauf bedacht sind, einer Entdeckung zu entgehen?«
Banks spielte mit seiner Krawatte. Er hasste es, eine Krawatte umzubinden, und konnte es nur ertragen, wenn er den obersten Knopf seines Hemdes offen ließ. »Bestimmte Theorien gehen davon aus, ja. Aber das Verhalten eines Kriminellen ist nicht so einfach vorhersehbar. Wenn es so einfach wäre, wäre auch unsere Arbeit einfacher.« Er lächelte die Geschworenen an, von denen ein oder zwei sein Lächeln erwiderten.
»Ich bitte Sie, Chief Inspector, entscheiden Sie sich: Entweder sie sind dumm und leicht zu fassen, wie Sie vorhin sagten, oder sie sind unberechenbar und unmöglich zu fassen. Wie denn nun?«
»Manche sind dumm, manche nicht. Wie ich schon sagte, Mörder agieren nicht immer rational. Diese Tat war nicht rational. Es ist unmöglich, vorherzusagen, was ein Mörder tun wird oder warum er etwas auf die Weise getan hat, wie er es getan hat.«
»Aber gehört es nicht zu Ihren Aufgaben, Verbrechen zu rekonstruieren, Chief Inspector?«
»Das überlassen wir heutzutage Fernsehsendungen wie >Crimewatch<.«
Im Zuschauerraum wurde Gelächter hörbar. Richter Simmonds verwarnte Banks für seine Respektlosigkeit.
»Worauf ich hinauswill«, fuhr Shirley Castle ohne die Miene zu verziehen fort, »ist, dass Sie anscheinend sehr wenig darüber wissen, was auf dem Friedhof von St. Mary's vorgefallen ist oder mit welcher Art von Täter Sie es zu tun haben. Ist es nicht so?«
»Wir wissen, dass Deborah Harrison mit dem Riemen ihres Schulranzens erdrosselt und dass ihre Kleidung derangiert worden ist.«
»Aber entspricht es nicht der Wahrheit, dass Sie sich einfach auf die erstbeste Person, die in der Gegend gesehen worden ist, versteift haben, auf jemanden, der Ihnen ins Konzept passte, und dass Owen Pierce unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist?«
»Ich würde eher sagen, dass Deborah Harrison zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist.«
»Sind Ihnen nicht bestimmte Elemente der Tat merkwürdig vorgekommen?«
»Welche Elemente?«
Shirley Castle sah in ihren Notizen nach. »Soviel ich weiß«, sagte sie, »war der Schulranzen des Opfers geöffnet. Erscheint Ihnen das nicht merkwürdig?«
»Er könnte sich geöffnet haben, als sie sich gewehrt hat.«
»Schwerlich«, meinte Shirley Castle abschätzig. »Der Ranzen war mit zwei stabilen Schnallen verschlossen. Wir haben es überprüft, glauben Sie mir, und er geht nur auf, wenn man ihn absichtlich öffnet.«
»Vielleicht wollte der Mörder etwas von ihr.«
»Was zum Beispiel, Chief Inspector? Sie werden doch nicht von einem Raubüberfall ausgehen wollen, oder? Was sollte man im Ranzen einer Schülerin suchen?«
»Es ist nicht ausgeschlossen. Aber ich ...«
»Wie viel Geld könnte eine Schülerin bei sich haben? Soviel ich weiß, hatte Deborah Harrison sechs Pfund in ihrem Portemonnaie, als sie gefunden wurde. Wenn Raub das Motiv war, warum wurden diese sechs Pfund nicht auch gestohlen? Und würde es nicht
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