Inspector Alan Banks 09 Das blutige Erbe
erkannte er nicht, aber in der letzten Zeit bekam er auch kaum mehr Handschriftliches zu Gesicht. Alles wurde heute mit der Maschine getippt oder am Computer geschrieben. Den Poststempel konnte er ebenfalls nicht richtig entziffern, es sah aus wie Brighouse oder vielleicht Bradford. Aber es hätte auch Brighton oder Bristol sein können. Abgestempelt am Donnerstag.
Vorsichtig riss er den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier hervor. Es war auf beiden Seiten bedruckt, in Spalten, und mit einer Überschrift in fetten Lettern versehen. Zuerst dachte er, es handele sich um einen Wurfzettel für einen Flohmarkt oder etwas Ähnliches, doch während er las, wurde ihm klar, wie falsch er damit lag.
Anfänglich verwirrt, dann verärgert las er die Worte. Lange bevor er am Ende angelangt war, kamen ihm Tränen. Er versuchte sich einzureden, sie seien nur durch das Brennen des Whiskeys verursacht worden, aber er wusste, dass es nicht stimmte. Er wusste auch, wer ihm den Brief geschickt hatte. Und warum.
* II
Manche der moderneren Leichenhallen waren mit Videokameras und Monitoren ausgerüstet, um es den Angehörigen leichter zu machen, die Unfall- oder Mordopfer aus komfortabler Entfernung zu identifizieren. Allerdings nicht in Eastvale. Dort zog immer noch ein Angestellter die Leiche aus dem Kühlfach und hob das Laken vom Gesicht.
Was merkwürdig war, dachte Banks, da die Leichenhalle eindeutig der als letztes renovierte Teil des zugigen, alten Steinhaufens war, der als Allgemeines Krankenhaus von Eastvale bekannt war.
Anfänglich waren Steven und Josie Fox nicht gewillt gewesen, mitzukommen und die Leiche anzuschauen. Banks konnte ihre Gründe verstehen. Wenn es tatsächlich Jason war, würden sie mit seinem Tod konfrontiert werden; wenn er es nicht war, würden sie sich umsonst der Unannehmlichkeit aussetzen müssen, einer übel zugerichteten Leiche gegenüberzustehen.
Widerstrebend waren sie dann doch aufgebrochen, hatten allerdings Banks' Angebot, sie mit einem Polizeiwagen fahren zu lassen, ausgeschlagen und waren stattdessen zu Fuß gegangen. Susan Gay war ins Revier zurückgekehrt.
Da das Krankenhaus zu klein und zu alt war und zu nah an den Touristenläden lag, befand sich am nördlichen Rand der Stadt eine wesentlich größere Einrichtung im Bau. Doch noch gab es nur Eastvales Allgemeines. Jedes Mal, wenn Banks die Stufen am Eingang hinaufging, erschauderte er. Das Gebäude aus dunklem, rohem Stein hatte selbst an einem heiteren Tag etwas an sich, das ihn an Operationen ohne Narkose, an unsterilisierte chirurgische Instrumente, an Seuchen und den Tod denken ließ.
Er führte die Foxes durch das Gewirr der hohen Gänge und die Stufen hinab in den Keller, wo die Leichenhalle lag. Banks wies sich einem Angestellten gegenüber aus, der nickte, seine Unterlagen überprüfte und Mrs. Fox behutsam am Arm berührte. »Bitte folgen Sie mir«, sagte er.
Sie folgten ihm. Über einen weiß gefliesten Gang in einen kühlen Raum. Dort überprüfte der Angestellte seine Papiere erneut, bevor er die Bahre herauszog, auf der die Leiche lag.
Banks beobachtete die Foxes. Sie berührten sich nicht, weder hielten sich an den Händen noch klammerten sie sich aneinander, wie viele Paare es taten, die vor eine solche Situation gestellt wurden. Gab es zwischen ihnen so viel Distanz, dass sie nicht einmal durch die Tatsache überbrückt werden konnte, dass sie in der nächsten Minute vielleicht ihren toten Sohn sehen würden? Es war bemerkenswert, hatte Banks oft gedacht, wie viele Menschen, die keine Gefühle mehr füreinander hatten, aus Angst vor Veränderung, Einsamkeit oder Ablehnung den gewohnten Gang der Dinge aufrechterhielten. Er musste an Sandra denken, schob den Gedanken aber sogleich beiseite. Er und Sandra waren nicht mit den Foxes zu vergleichen. Sie waren nicht getrennt, sondern unabhängig -, sie gaben sich gegenseitig Freiraum. Außerdem hatten sie zu viel gemeinsam, hatten über die Jahre einfach zu viel Freude und Schmerz geteilt, um sich zu verhalten wie nach einer gescheiterten Ehe, ... oder?
Der Angestellte zog das weiße Laken zurück, um das Gesicht der Leiche zu enthüllen. Josie Fox legte im selben Augenblick eine Hand vor den Mund und begann zu schluchzen. Steven Fox, bleich wie das Laken, das seinen Sohn bedeckte, nickte nur und sagte heiser: »Das ist er. Das ist unser Jason.«
Banks war überrascht, wie gut das Personal der Leichenhalle
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