Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
war der Zahnarzt im Ort. Ein schrecklicher Mann. Er trank. Und wenn ich mich richtig erinnere, gab es zwei Ärzte. Unser war Dr. Nuttall. Er hatte sehr zarte Hände.«
»Wissen Sie, was mit seiner Praxis passiert ist? Er ist wahrscheinlich inzwischen tot, oder?«
»Ach, schon lange, nehme ich an. Und Granville ging auch schon auf die sechzig zu, als der Krieg ausbrach. Sie sind wohl auf der Suche nach ärztlichen Unterlagen, ja?«
»Genau.«
»Da werden Sie, glaube ich, nicht mehr viel Glück haben, meine Liebe, nicht nach so langer Zeit.«
»Wahrscheinlich nicht. Was wohnten denn sonst noch für Leute im Dorf?«
»Eigentlich alle möglichen. Warten Sie mal. Wir hatten Ladenbesitzer, Milchmänner, Gastwirte - es gab drei Pubs im Ort -, Landarbeiter, Maurer, Lastwagenfahrer, den einen oder anderen Handlungsreisenden, eine Reihe Pensionäre vom Militär und so. Lehrer natürlich. Wir hatten sogar unseren eigenen Maler. Na ja, nicht so berühmt wie Constable oder Turner, verstehen Sie, inzwischen ist er auch aus der Mode gekommen. Kommen Sie doch mal mit!«
Sie erhob sich mühsam aus dem Liegestuhl und Annie folgte ihr ins Haus. Drinnen war es heiß; Annie fühlte, wie ihr der Schweiß hinter den Ohren herunterlief. Es juckte. Sie war froh, keine Strumpfhose angezogen zu haben.
Durch den plötzlichen Wechsel vom grellen Sonnenlicht zum Halbdunkel des Hauses konnte sie die Möbel zuerst nicht erkennen, sah nur, dass sie altmodisch waren: ein Schaukelstuhl, eine Standuhr, eine Vitrine voller Kristallglas. Das Zimmer, in das Mrs. Kettering sie führte, roch nach Möbelpolitur mit Zitronenduft.
Sie blieben vor einer Kaminumfassung aus dunklem Holz stehen, und Mrs. Kettering wies auf ein großes Aquarell, das darüber hing. »Das ist von ihm«, sagte sie. »Er schenkte es mir zum Abschied. Fragen Sie mich nicht, warum, aber er hatte eine Schwäche für mich. Vielleicht weil ich zu meiner Zeit ein ganz hübsches Ding war. Ein ziemlicher Schwerenöter, dieser Michael Stanhope, um ehrlich zu sein. Wie die meisten Künstler. Aber ein hervorragender Maler. Sehen Sie selbst!«
Annies Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie Stanhopes Gemälde auf sich wirken lassen konnte. Die Malerei war ihre große Schwäche, das hatte sie von ihrem Vater geerbt. Sie musste innerlich über Mrs. Ketterings Bemerkung lächeln. »Ein ziemlicher Schwerenöter.« Ja, das traf wohl auch auf ihren Vater zu. Annie malte ebenfalls in ihrer Freizeit, deshalb fand sie es faszinierend, die Arbeit des verkannten Genies von Hobb's End zu betrachten.
»Ist das Hobb's End vor dem Krieg?«
»Ja«, antwortete Mrs. Kettering. »Genauer gesagt, kurz nach Ausbruch des Krieges. Es ist von der Feenbrücke aus gemalt mit Blick auf die Mühle.«
Annie trat einen Schritt zurück und untersuchte das Bild sorgfältig. Was ihr als Erstes ins Auge fiel, war Stanhopes eigentümliche Verwendung von Farbe. Es handelte sich um eine Herbstszene. Sie vermittelte den Eindruck, als habe Stanhope die tief in den Steinen, Feldern, Hügeln und im Wasser versteckten Farbtöne und Schattierungen herausgeholt, sie ans Licht gezwungen und dadurch ein Zusammenspiel von purpurroten, blauen, braunen und grünen Tönen geschaffen, das man in Wirklichkeit nie in einem Dorf in Yorkshire sah. Aber dem Auge kam es natürlich vor. Nichts besaß seine wahre Farbe, trotzdem schien alles irgendwie seine Richtigkeit zu haben. Das Bild war unheimlich, fast surreal in der Wirkung.
Als Nächstes bemerkte sie die leicht verzerrte Perspektive, wahrscheinlich das Ergebnis kubistischer Einflüsse. Die Mühle war vorhanden, sie thronte auf der Anhöhe in der oberen linken Ecke, und obwohl es aussah, als solle sie die Szene beherrschen, tat sie es durch irgendeinen perspektivischen Trick nicht. Sie war einfach nur da. Die Kirche auf der rechten Seite des Flusses rückte durch ihren dunklen, unterschwellig bedrohlich wirkenden, viereckigen Kirchturm, um den Krähen oder Raben zu kreisen schienen, viel stärker in den Vordergrund.
Die übrige Bildgestaltung wirkte schlicht und relativ realistisch - eine dörfliche Szene auf der High Street, die sie an Brueghel erinnerte. Es gab eine Vielzahl von Details; ein Kunstlehrer hätte die Arbeit wohl als überladenes Bild bezeichnet.
Die Dorfbewohner gingen ihren Alltagsbeschäftigungen nach: einkaufen, plaudern, Kinderwagen schieben. Jemand strich eine Haustür; ein Mann saß
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