Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
Künstlerszene der Hauptstadt Fuß zu fassen. In den Fünfzigern hörte ich immer wieder, er sei in die Nervenheilanstalt eingeliefert worden, und als letztes sah ich 1968 seine Todesanzeige. Er starb an Lungenkrebs. Dem Mann hing ständig eine Zigarette im Mundwinkel. Er musste die Augen immer zukneifen, damit ihm der Rauch beim Malen nicht hereinstieg. Ich bin überzeugt, dass das seine Perspektive veränderte.«
»Wahrscheinlich ja«, sagte Annie. »Was geschah mit seinen Bildern?«
»Das weiß ich nicht, meine Liebe. Die sind in alle Himmelsrichtungen verstreut, nehme ich an. Private Kunstsammlungen, kleine Galerien.«
Annie blieb eine Weile schweigend sitzen und ließ sich alles durch den Kopf gehen. »Bridge Cottage«, sagte sie, »wo wir das Skelett gefunden haben. Auf Ihrem Bild sah es vernachlässigt aus.«
»Das hab ich auch schon gemerkt«, bestätigte Mrs. Kettering, »und dadurch ist mir noch etwas eingefallen. Also, ich bin mir zwar nicht vollkommen sicher, nicht nach so langer Zeit, aber ich glaube, dass dort eine alte Frau wohnte. Eine Art Einsiedlerin.«
»Eine alte Frau, sagten Sie?«
»Ja, ich glaube schon. Obwohl ich Ihnen nichts über sie sagen kann. Nur fiel mir wieder ein, als ich das Bild betrachtete, dass einige Kinder sie für eine Hexe hielten. Sie hatte eine lange Hakennase. Sie hat die Kinder immer verscheucht. Jedenfalls glaube ich, dass sie es war. Tut mir Leid, dass ich keine größere Hilfe bin.«
Annie beugte sich vor und berührte Mrs. Ketterings Arm. »Sie waren mir eine Hilfe. Glauben Sie mir.«
»Gibt es sonst noch etwas, das Sie wissen möchten?«
Annie erhob sich. »Nicht, dass ich wüsste. Im Moment nicht.«
»Kommen Sie doch wieder vorbei, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Es ist so schön, Gäste zu haben.«
Annie lächelte. »Das tue ich. Danke sehr.«
Zurück im Auto, trommelte Annie mit den Fingern aufs Lenkrad und betrachtete die Spiegelbilder der Möwen auf der Wasseroberfläche. Sie hatte herausbekommen, dass das Haus früher Bridge Cottage hieß und dass dort im Herbst 1939 vielleicht eine alte Frau gewohnt hatte. Natürlich wusste sie noch immer nicht, wie lange die Leiche unter dem Boden des Schuppens gelegen hatte, daher konnte sie auch nicht einschätzen, ob ihr diese Information nutzte oder nicht.
Wichtiger war vielleicht, dass sie durch das Gemälde von Stanhope zum ersten Mal ein richtiges Gefühl für Hobb's End bekommen hatte, und das konnte sich im späteren Verlauf noch als hilfreich erweisen. Annie hatte es schon immer wichtig gefunden, ein Gefühl für den Fall zu entwickeln, obwohl sie diese Theorie nie vor ihren männlichen Kollegen vertreten hatte. Wie kam es, dass die Worte weibliche Intuition in ihren Ohren genauso beleidigend klangen wie hysterisch und Unpässlichkeit?
Sie wendete und fuhr zurück zur Wache. Ein langer Tag am Telefon lag vor ihr.
***
Als Matthew Gloria zum ersten Mal sah, konnte ich ihre gegenseitige Anziehungskraft wie die unheimliche elektrische Spannung vor einem Gewitter spüren, wenn man ohne ersichtlichen Grund unruhig und nervös ist. Das machte mir Angst; ich weiß nicht, warum.
Irgendetwas an Gloria veränderte sich, wenn ein Mann das Zimmer betrat. Es war, als ob sie plötzlich an war, so wie ich mich fühle, wenn sich der Vorhang bei unseren Amateurvorstellungen hebt und endlich das richtige Publikum da ist, um uns zuzusehen. Damit will ich nicht sagen, dass das bei ihr mit Absicht geschah, sondern nur, dass sich etwas in ihr veränderte, so dass sie sich ein klein wenig anders bewegte und anders sprach, wenn ein Mann in der Nähe war. Das merkte ich sogar bei Michael Stanhope. Er muss auch etwas gespürt haben, sonst hätte er ihr keine Zigaretten geschenkt.
Aber die Sache mit Matthew war ernst. Nach ihrer ersten Begegnung im April ging es schnell bei ihnen. Schon am selben Nachmittag zeigte Matthew ihr das Dorf, auch wenn es wenig zu sehen gab. Einige Tage später gingen sie nach Harkside ins Kino und dann dort zum Maitanz ins Mecha-nics Institute. Ich half an der Erfrischungstheke aus und konnte daher sehen, wie eng sie zusammen tanzten, wie sie sich anguckten.
Ich war überhaupt nicht überrascht, als Matthew ankündigte, er habe Gloria am Sonntag zum Tee eingeladen. Es war der elfte Mai, Mutter ging es wieder schlecht, so dass die Vorbereitung an mir hängen blieb. Ich hätte es bestimmt bei einem Teller mit Sandwiches
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