Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
Alles etwas schlampig. Außerdem gibt es Anzeichen von Vernachlässigung, wie ich schon sagte, was vielleicht darauf hinweist, dass wir es mit jemandem aus armen Verhältnissen zu tun haben, der sich nicht die beste Behandlung leisten konnte. Weißt du, oft ließen sich die Mädchen schon mit zwanzig Jahren alle Zähne ziehen und trugen den Rest ihres Lebens ein Gebiss.«
»Hm. Danke, Geoff.« Banks war immer der Ansicht gewesen, dass es der Gipfel des Masochismus war, für diese Quälerei auch noch zahlen zu müssen.
»Eine andere Möglichkeit ist Krieg.«
»Ja? Wie meinst du das?«
»Denk doch mal nach! Die meisten guten jungen Zahnärzte und Ärzte waren bei den Streitkräften, es waren nur noch alte Tattergreise übrig. Mit schlechtem Werkzeug. Es war kaum etwas zu machen. Das Militär hatte oberste Priorität.«
»Stimmt. Daran hab ich gar nicht gedacht.«
»Und dann gibt es noch was.«
»Das wäre?«
»Wir bekamen erst 1948 den Nationalen Gesundheitsdienst. Davor musste man Zahnarztleistungen selbst bezahlen. Da hatte es die Arbeiterklasse natürlich am schwersten.«
»Wie immer«, sagte Banks und dachte an seinen Vater, der nach einer langen Schicht in der Stahlfabrik immer schweigend und erschöpft nach Hause kam, und an seine Mutter, die abends einschlief, nachdem sie den ganzen Tag lang die Häuser anderer Leute geputzt hatte. »Also möglicherweise Krieg und arm?«
»Genau.«
»Danke noch mal. Ich schulde dir was, Geoff.«
»Das treibe ich gerne wieder ein. Wenn du natürlich ihren Zahnarzt finden könntest, wenn es noch Unterlagen geben sollte ...«
»Wir bemühen uns«, sagte Banks. »Aber das ist alles schon lange her. Selbst wenn er noch leben sollte, wie lange bewahrt ein Zahnarzt seine alten Unterlagen auf?«
»Stimmt schon. Viel Glück, Alan. Wir sprechen uns.«
Banks legte den Hörer auf und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, um über das nachzudenken, was er gerade erfahren hatte. Ioan Williams und Geoff Turner waren sich einig, dass das Skelett nicht nach dem Austrocknen des Thornfield-Stausees Mitte des Sommers dort deponiert worden war, und Dr. Williams hatte geschätzt, dass dies frühestens Ende der dreißiger Jahre geschehen war. Also hatte das Skelett seit weniger als hundert Jahren dort gelegen, nämlich eher seit fünfzig oder sechzig. Das bedeutete, dass das Opfer zum Zeitpunkt des Todes zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig Jahren gewesen sein musste. Hätte sie überlebt, wäre sie jetzt wahrscheinlich zwischen siebzig und achtzig. Dann konnte aber auch ihr Mörder noch am Leben sein, ebenso ein Zeuge oder wenigstens jemand, der sich an sie erinnerte.
Die Sache entwickelte sich zu einem richtigen Fall. Was sie aus dem Thornfield-Stausee geborgen hatten, war nun keine Ansammlung dreckiger alter Knochen mehr; in Banks Phantasie nahm die Frau langsam Gestalt an. Er hatte keine Vorstellung, wie sie wirklich ausgesehen hatte, aber vor seinem inneren Auge entstand bereits eine Collage aus den Filmstars der Kriegszeit, gekleidet nach der damaligen Mode: Greer Garson, Deanna Durbin, Merle Oberon. Als Nächstes musste er ihren Namen herausfinden; dadurch würde sie für ihn noch wirklicher werden.
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Genau vier Uhr. Wenn er jetzt losfuhr, wäre er in ungefähr einer Stunde in Harkside. Genug Zeit, um seine Aufzeichnungen mit Annie zu vergleichen.
* 5
***
Im Vergleich zu anderen Hochzeiten war die von Matthew und Gloria verhältnismäßig bescheiden. Einige Familienangehörige kamen aus Eastvale und Richmond angereist, darunter entfernt verwandte Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gloria hatte ja keine Familie, daher waren die übrigen Gäste Leute aus dem Ort. Mr. und Mrs. Kilnsey vom Hof waren da, obwohl Mr. Kilnsey so aussah, als fürchte er um sein Seelenheil, weil er sich in der Church of England befand, der Brutstätte der Götzenverehrung.
Gloria hatte darauf bestanden, Michael Stanhope einzuladen, denn sie hatte Freundschaft mit ihm geschlossen. Er wirkte fast so untröstlich wie Mr. Kilnsey, sich in einer derart geheiligten Umgebung zu befinden. Doch war er nüchtern und hatte sich immerhin die Mühe gemacht, sich zu rasieren, das Haar zu kämmen und einen anständigen, wenn auch ziemlich fadenscheinigen und speckigen Anzug anzuziehen. Auch vergaß er nicht, während des Gottesdienstes seinen
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