Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
Sie schien nur einen ganz kleinen Zweifel zu haben, welchen Bus wir nehmen mussten, doch ein kurzes Wort mit der Schaffnerin, die sich sichtlich um Ähnlichkeit mit Joan Crawford bemühte, bestätigte Glorias Vermutung. Wir gingen nach oben, wo man rauchen durfte, und dann fuhren wir los.
Es war eine rasante Fahrt. Mehr als einmal fürchtete ich, der Bus würde in der Kurve umkippen. Im Osten glaubte ich durch die schmutzigen, verregneten Fenster die riesige Kuppel von St. Paul im grauen Licht zu erkennen. Die Größe der Gebäude rings um mich überwältigte mich: weiße und graue, vom Regen geschwärzte Mauern, fünf oder sechs Stockwerke hohe, geschwungene georgianische oder edwardianische Fassaden mit Ziergiebeln und Wasserspeiern. Gewaltige ionische Säulen. Diese Stadt musste von Riesen erbaut worden sein, dachte ich.
Einmal klopfte mir das Herz bis zum Hals. Ich sah Glasscherben und Schutt auf dem Bürgersteig liegen und verstreut dazwischen menschliche Körperteile: ein Kopf, ein Bein, ein Rumpf. Aber als ich genauer hinsah, war kein Blut zu sehen, und die Gliedmaßen wirkten hart und unnatürlich. Dann ging mir auf, dass ein Bekleidungsgeschäft von einer Bombe getroffen worden sein musste und alle Schaufensterpuppen auf die Straße geschleudert worden waren.
Wir gingen an der Säule auf dem Trafalgar Square vorbei, die in Wirklichkeit viel höher war, als ich sie mir vorgestellt hatte. Man konnte den armen Lord Nelson obenauf kaum erkennen. Der Sockel der Säule war durch Reklamewände verstellt, die für den Ankauf von Kriegsanleihen warben. Auf der anderen Seite des Platzes stand neben dem Insurance Office und dem Gebäude der Canadian Pacific eine große Tafel mit Werbung für Famel-Hustensirup.
Viele Soldaten irrten umher. Ich kannte die ganzen Kappen und Uniformen nicht, die es in fast allen vorstellbaren Farben zu geben schien, von Schwarz über Stahlblau bis Kirschrot. Aus dem Bus heraus sah ich am Trafalgar Square den ersten Schwarzen meines Lebens. Ich wusste natürlich, dass es sie gab - ich hatte über sie gelesen -, aber ich hatte noch nie zuvor einen Farbigen erblickt. Ich weiß noch, dass ich ziemlich enttäuscht war, weil er, abgesehen von seiner Hautfarbe, gar nicht so anders aussah als andere Menschen.
Gloria stieß mich sanft an, und wir stiegen an einer breiten Straße aus, die ebenfalls von hohen Gebäuden gesäumt wurde.
Und da fing unsere Suche erst richtig an. Während Gloria mit mir von einem Haus zum nächsten ging, fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das die Mutter hinter sich herzerrt. Wir erkundigten uns bei Polizisten, klopften an Türen, fragten Soldaten und Fremde auf der Straße, klopften an noch mehr Türen.
Als ich schließlich durchnässt und müde war und kapitulieren wollte, gab es Grund zur Freude, denn Gloria hatte schließlich einen niederen Beamten gefunden, der Mitleid mit uns hatte. Ich glaube nicht ernsthaft, dass er etwas über Matthew oder sein Schicksal wusste, aber er schien sich ein wenig besser mit dem Krieg im Fernen Osten auszukennen, als alle anderen zugeben wollten. Und er schien Gloria ins Herz geschlossen zu haben.
Es war ein ordentlicher kleiner Mann in einem Nadelstreifenanzug. Er hatte graues, in der Mitte gescheiteltes Haar und einen säuberlich gestutzten Schnauzer. Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr, spitzte die Lippen und runzelte die Stirn. Dann schlug er vor, er hätte vielleicht zehn Minuten für uns Zeit, wenn wir ihn zum Teehaus an der Ecke begleiten wollten. Er besaß eine hohe, piepsige Stimme und sprach mit einem affektierten, gelehrten Akzent. Inzwischen war ich durchaus bereit, für eine Tasse Tee zu töten. Wir schleppten uns ins Teehaus, bezahlten den Tee an der Theke, und noch bevor wir den ersten Schluck getrunken hatten, begann Gloria, den armen Kerl mit Fragen zu löchern.
»Wie stehen die Chancen, dass Matthew noch lebt?«, wollte sie wissen.
Das war offenbar nicht die Art von Frage, die der Mann, der sich uns als Arthur Winchester vorgestellt hatte, zu beantworten gelernt hatte. Er stutzte und räusperte sich ein wenig, ?Hann wog er seine Worte so sorgfältig ab wie die uns zugeteilten Zuckerwürfel in der Schüssel. »Diese Frage kann ich leider nicht richtig beantworten«, erwiderte er. »Wie ich Ihnen schon sagte, besitze ich keine Informationen über den von Ihnen angesprochenen Fall, sondern nur ein wenig Allgemeinwissen über die Situation im Osten.«
»Schon
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