Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
Straßen ging, hätte sie sich fast einbilden können, es sei Sommer. Ein Mann im weißen Kittel verkaufte von einem kleinen Lieferwagen aus Fleisch und Gemüse an die Dorfbewohner. Alle hielten inne und sahen sie an, als sie vorbeiging. Keiner lächelte oder sagte etwas, sie starrten sie nur an. Ein merkwürdiges Gefühl. Die Leute schienen nicht direkt unfreundlich zu sein, aber reserviert, fast traurig, als wollten sie ihr sagen, dass ihre Welt nicht Annies war und es nie sein würde, dass sie nicht hierher gehörte und weitergehen sollte.
Was sie tat.
Kurz nach dem Dorf, von wo aus es zurückging, führte der Pfad Annie durch ein Feld hinunter zum Fluss. Sie sah Daltons roten Anorak hin und wieder zwischen den kahlen Erlen aufblitzen, die den Swale säumten. Leere braune Samenkapseln hingen nach wie vor an vielen Ästen und gaben den Bäumen eine schokoladenbraune Farbe.
Je näher sie kam, desto nervöser und verwirrter wurde Annie. Sie hatte immer noch keine körperliche Angst vor Dalton, aber seine Ankunft in Eastvale und die Erinnerungen, die dadurch wach wurden, hatten sich auf ihr sonst so ruhiges emotionales Zentrum verheerend ausgewirkt. Zum einen wusste sie nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Was sagte man zu einem Mann, der ein williger Mittäter bei einer Vergewaltigung gewesen war, einem Mann, der einen selbst vergewaltigt hätte, wenn es ihr nicht gelungen wäre, sich aus seinem Griff zu befreien und zu fliehen? Wie würde er reagieren? Vielleicht, dachte sie, war es doch keine so gute Idee gewesen. Sie könnte bei der Drehbrücke einfach nach links abbiegen und hinauf nach Reeth gehen, wo ihr Auto stand, die ganze Sache vergessen und sich wieder an die Arbeit machen.
Aber sie ging weiter.
Es war nur eine kleine Brücke. Hier wand sich der Fluss durch Wiesen, auf denen Kühe grasten. Doch es war eine echte Drehbrücke, und Annie verspürte einen leichten Angstschauer, als sie die hölzernen, etwas schwankenden Planken betrat. Sie hatte zwar keine richtige Phobie, wurde aber stets ein bisschen nervös auf Brücken, obwohl sie nicht wusste, warum.
Dalton war auf der anderen Seite am Flussufer stehen geblieben, etwa hundert Meter vor ihr, und schien ihr Näherkommen zu beobachten. Mit einem leichten Schwindelgefühl blieb Annie auf der Brücke stehen und tat so, als würde sie die Aussicht genießen, wartete darauf, dass er den ersten Schritt tat. Aber es geschah nichts. Er blieb, wo er war, und sah sie an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hatte er sie erkannt,? Hatte er gewusst, dass sie ihm die ganze Zeit gefolgt war?
Ihr blieb nur eine Möglichkeit, wenn sie nicht weglaufen wollte. Sie ging durch das Tor auf der anderen Seite der Brücke und über den grasbewachsenen Pfad auf ihn zu. Er ließ sie nicht aus den Augen, aber sie spürte von seiner Seite kein Wiedererkennen. Ihre Furcht verwandelte sich rasch in Wut. Wie konnte er es wagen, sie nicht wiederzuerkennen, nach allem, was er ihr angetan hatte? Sie atmete tief durch, um ruhig und gelassen zu bleiben. Das half ein wenig.
Schließlich, etwa fünf oder sechs Meter von Dalton entfernt, blieb sie stehen und nahm die Mütze ab, ließ ihr kastanienbraunes, lockiges Haar frei auf die Schultern fallen. Jetzt sah sie, dass er sie erkannte. Er hatte bisher nicht gewusst, wer sie war, aber nun wusste er es. Sie hörte sogar, wie er scharf einatmete.
»Sie«, sagte er.
»Hallo, Wayne«, gab sie zurück. »Ja, ich bin es. Schön, Sie wiederzusehen.«
Banks wachte gegen acht Uhr am Sonntagmorgen aus einem verstörenden Traum auf. Er war durch eine unbekannte Landschaft gewandert, die sich dauernd veränderte, mal ländlich und mal städtisch war. Irgendwo gab es einen Fluss oder vielleicht einen Kanal. Was es auch war, im Traum hatte er das Gefühl, dass der Wasserlauf nie weit entfernt war. Es regnete ununterbrochen, und es herrschte ständig Zwielicht, egal, wo er war und wie lange er zu gehen schien. Andere Menschen glitten wie Schatten vorbei, aber er erkannte niemanden. Er hatte das Gefühl, dass er jemandem folgen sollte, wusste aber nicht, wem oder warum.
Plötzlich befand er sich auf einer grünen Eisenbrücke, und vor ihm ging ein Mann. In dem Moment stieg Panik in Banks auf, und er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er wollte aufwachen, aus dem Traum ausbrechen. Der Mann drehte sich um. Er war jedoch kein Monster, sondern nur ein völlig normal aussehender Mann.
»Ich
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