Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
zu besprechen.« Sie nannte ein Restaurant in der Camden High Street, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. »Halb acht?«
»Sagen wir lieber acht, damit nichts schief geht?«
»Gut, um acht.«
»Schön. Bis dann.«
»Bis dann.«
Sandra legte auf, und Banks hörte nur noch das Rauschen im Ohr. Vielleicht hatte sie ihn nicht direkt mit offenen Armen willkommen geheißen, aber sie hatte ihn auch nicht abgewiesen. Wichtiger noch, sie hatte sich einverstanden erklärt, ihn morgen zu treffen. Und ein Abendessen war viel intimer als ein Lunch oder ein schnelles Glas am Nachmittag. Das war ein gutes Zeichen.
Als Banks am späten Nachmittag den Zug von Euston aus nahm, war es bereits dunkel. Der Virgin Inter-City raste so schnell durch Hemel Hempstead, dass Banks kaum das Stationsschild entziffern konnte, doch dann wurde er bei Berkhamsted aus keinem ersichtlichen Grund langsamer, außer dass Züge das hin und wieder taten; hatte was mit Blättern auf den Schienen oder einer Kuh in einem Tunnel zu tun.
Graham Greene kam aus Berkhamsted, erinnerte sich Banks aus Eine Art Leben, das er vor ein oder zwei Jahren gelesen hatte. Greene war einer seiner Lieblingsautoren, seit Banks während seiner Zeit bei der Londoner Polizei den Dritten Mann im Fernsehen gesehen hatte. Danach hatte er, in seiner üblichen zwanghaften Art, alles gesammelt und gelesen, was er von Greene in die Finger kriegen konnte, von den unterhaltsamen bis zu den seriösen Romanen, Filmen auf Video/Essays und Kurzgeschichten.
Besonders beeindruckt hatte ihn die Geschichte des neunzehn- oder zwanzigjährigen Greene, der mit einem geladenen Revolver zum Ashbridge Park in Berkhamsted gegangen war, um Russisches Roulett zu spielen. Es war ein bisschen unheimlich, sich jetzt diesen linkischen, schlaksigen jungen Mann vorzustellen, der einer der berühmtesten Autoren des Jahrhunderts werden sollte, wie er in jenem Herbst vor über fünfundsiebzig Jahren ein leeres Patronenlager anblickte, nicht weit von dort, wo der Zug gerade angehalten hatte.
Banks war ebenfalls beeindruckt von dem, was Greene über Kindheit geschrieben hatte, dass wir alle »Emigranten aus einem Land sind, an das wir zu wenig Erinnerung haben«, wie wichtig die Fragmente sind, an die wir uns deutlich erinnern, und wie viel Zeit wir damit verbringen, uns aus diesen Fragmenten zu rekonstruieren.
Den größten Teil seines Lebens hatte Banks nicht viel über seine Vergangenheit nachgedacht, aber seit Sandra ihn vor einem Jahr verlassen hatte, merkte er, dass er immer wieder zu bestimmten Vorfällen zurückkehrte, zu Momenten der Freude und Angst und zu Schuldgefühlen, zusammen mit Gegenständen, Ansichten, Klängen und Gerüchen, die diese Momente zurückbrachten, als suche er nach Anhaltspunkten für seine Zukunft. Er erinnerte sich, dass Greene als Kind einige Begegnungen mit dem Tod gehabt hatte, die ihm halfen, sein Leben zu formen. Banks hatte Ähnliches erlebt, und er glaubte, dass diese Erlebnisse auf eine obskure, symbolische Weise dazu beigetragen hatten, dass er Polizist geworden war.
Zum Beispiel erinnerte er sich an den heißen Sommertag, als Phil Simpkins ein Seil um den hohen Baum im Kirchhof geschlungen und mit einem Tarzanschrei hinabgestürzt war, direkt auf die spitzen Zaunpfähle. Nie würde Banks das platschende Geräusch vergessen, mit dem der Körper aufgeprallt war. Erwachsene waren nicht zugegen. Banks und zwei andere Jungs hatten ihren zuckenden und schreienden Freund vom Zaun gehoben und nicht gewusst, was sie tun sollten, als er sie mit Blut bespritzte, das aus einer aufgerissenen Oberschenkelarterie sprudelte, und verblutete. Später hatte jemand gesagt, sie hätten ihm eine Aderpresse anlegen und Hilfe holen sollen. Aber sie waren in Panik geraten und erstarrt. Hätte Phil überlebt, wenn sie gehandelt hätten? Banks glaubte nicht, aber es war eine Möglichkeit und ein Fehler, mit dem er leben musste.
Dann gab es noch Jem, einen Nachbarn aus seiner Zeit in Notting Hill, der an einer Überdosis Heroin gestorben war. Und Graham Marshall, einen scheuen, stillen Klassenkameraden, der eines Tages verschwand und nie gefunden wurde. Auf seine Art fühlte sich Banks auch für sie verantwortlich. So viele Todesfälle für jemanden, der so jung war. Manchmal meinte Banks, Blut an den Händen zu haben, zu viele Menschen enttäuscht zu haben.
Der Zug hielt in Milton Keynes. Banks stieg aus, ging die Treppe hinauf und
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