Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
Arbeit zu gehen. Nicht dass ich so einen tollen Job hatte, ich habe nur am Empfang der Praxisgemeinschaft ein Stück die Straße runter gearbeitet. Aber da hat man Leute getroffen, geplaudert, mitgekriegt, was in der Welt passiert. Ich würde verrückt werden, wenn ich tagein, tagaus nur in meinen vier Wänden hocken müsste. Sie nicht?«
»Doch«, erwiderte Annie. »Aber Mrs. Walker schien es nichts auszumachen?«
»Sie hat sich nie beschwert. Doch es verstößt gegen ihre Religion, nicht wahr, sich zu beschweren?«
»Das wusste ich nicht.« Annie wäre die Erste gewesen zuzugeben, dass sie nicht viel über Religion wusste, außer was sie gelesen hatte, und sie hatte hauptsächlich über Buddhismus und Taoismus gelesen. Ihr Vater war Atheist, also brauchte sie nicht zur Sonntagsschule oder die üblichen Kindheitsindoktrinationen über sich ergehen zu lassen, und die Menschen, die für einige Zeit in der Kommune lebten, hatten die unterschiedlichsten Vorstellungen von Religion und Philosophie. Alles wurde ständig diskutiert, hing in der Luft.
»Ich meine, wenn alles, was mit einem geschieht, Gottes Wille ist, im Guten wie im Schlechten, dann darf man sich bei Gott nicht über Gott beschweren, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich glaube schon.«
»Die Walkers waren nur ein bisschen altmodisch, mehr nicht. Hinter ihrem Rücken wurde oft gelacht. Oh, nicht bösartig oder so. Meistens gutmütig. Aber sie haben es gar nicht bemerkt. Das war auch so etwas, das in ihrer Religion nicht vorgesehen war. Humor. Manchmal hat mir die junge Ruth Leid getan.«
»Warum?«
»Na ja, in ihrem Leben gab es nicht viel Spaß. Und junge Leute brauchen Spaß. Selbst wir Alten brauchen von Zeit zu Zeit ein bisschen Spaß, aber wenn man jung ist...« Sie seufzte. »Die Werte der Walkers unterschieden sich eben von denen anderer Leute. Und sie hatten nicht viel Geld, da er als Einziger arbeitete.«
»Wie sind sie zurechtgekommen?«
»Mit Sparsamkeit. Pauline konnte gut haushalten, das muss ich ihr lassen. Hielt das Geld zusammen. Aber das bedeutete, dass Ruth mit der Mode und solchen Dingen kaum mithalten konnte. Man sah sie Jahr für Jahr in derselben Kleidung. Auch wenn die Sachen schon etwas knapp saßen. Und die Schuhe. Guter Gott, sie stapfte in den hässlichsten Dingern rum, die man sich vorstellen kann. Pauline hat sie ihr gekauft, weil sie haltbar waren, verstehen Sie. Stabile, zweckmäßige Dinger mit dicken Sohlen, damit sie lange hielten. Keine von diesen Nikes oder Reeboks, wie die anderen Kinder sie trugen. Ob es einem gefällt oder nicht, Liebes, Mode ist so wichtig für Kinder, besonders für Teenager.« Sie lachte. »Ich sollte das wissen; ich hab zwei großgezogen.«
»Was ist passiert?«
»Das Übliche. Die anderen Mädchen in der Schule haben Ruth ausgelacht, ihr Spitznamen gegeben, sie gequält. Kinder können so grausam sein. Und die Eltern hielten auch nichts von Musik oder Fernsehen - weigerten sich, einen Plattenspieler oder Fernseher im Haus zu haben -, also konnte sich die arme Ruth nicht an den Gesprächen der anderen beteiligen. Sie wusste nichts von den neuesten Hits und den beliebten Fernsehserien. Sie hielt sich immer ein bisschen für sich. Und sie war auch nicht gerade eine Schönheit. Sie war eher ein käsiges, plumpes Mädchen, und die werden gern gequält.«
Das klang alles, als hätte Ruth keine angenehme Jugend gehabt, fand Annie. Die Künstlerkolonie, in der sie selbst aufgewachsen war, besaß auch keinen Fernseher, aber es gab immer Musik - oft live - und alle möglichen interessanten Menschen. An manchen Abenden wurden Lieder gesungen und Gedichte vorgetragen. Annie konnte es von ihrem Schlafzimmer aus hören. Für sie war es natürlich ein einziges Kauderwelsch, nichts reimte sich, aber alle schienen Spaß zu haben. Manchmal durfte sie auch etwas vorsingen, und bei aller Bescheidenheit musste sie zugeben, dass sie gar keine so"schlechte Stimme für traditionelle Folkmusik hatte.
Trotzdem konnte sie Ruths Gefühl nachvollziehen, ein Außenseiter zu sein. Wenn man auf irgendeine Weise anders ist - egal, ob die eigene Familie zu streng oder zu liberal ist -, wird auf einem rumgehackt, besonders, wenn man nicht dem neuesten Trend folgt. Kinder sind grausam, da hatte Mrs. Tattersall Recht. Annie konnte sich aus der eigenen Kindheit sehr gut an einige ihrer Grausamkeiten erinnern.
Einmal, als sie etwa dreizehn war, hatten ihr
Weitere Kostenlose Bücher