Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Luke Sie um Hilfe gebeten hätte, hätten Sie ihm geholfen?«
»Das kommt drauf an.«
»Wenn er hätte von zu Hause fortlaufen wollen, zum Beispiel.«
»Dann hätte ich alles getan, um ihn davon abzubringen.«
»Das hört sich an wie eine offizielle Antwort.«
»Dahinter stehe ich.«
»Sie würden ihn nicht bei sich aufnehmen?«
»Natürlich nicht.«
»Wir wissen nämlich nicht, wo er an seinem letzten Tag gewesen ist. Zumindest nicht nach halb sechs. Er wurde zuletzt gesehen, als er auf der Market Street in nördliche Richtung ging. Da wäre er irgendwann zu Ihnen gekommen, nicht wahr?«
»Ja, aber ... ich meine ... warum sollte er zu mir kommen?«
»Weil er Ihnen vertraut hat, weil er Ihre Hilfe brauchte?«
»Ich wüsste nicht, wobei.«
»Wann hatten Sie den nächsten Termin mit ihm?«
»Erst im nächsten Schuljahr. Ich fahre nächste Woche für den Rest der Ferien zu meinen Eltern. Meinem Vater geht es in letzter Zeit nicht gut, und meine Mutter hat große Schwierigkeiten damit.«
»Das tut mir Leid. Wo wohnen Ihre Eltern?«
»In Südwales. Tenby. Verschlafenes kleines Dorf, aber es liegt am Meer, viele Klippen, wo man spazieren gehen und nachdenken kann.«
»Ist Luke am vorletzten Montag ganz bestimmt nicht bei Ihnen gewesen?«
»Ganz bestimmt nicht. Dafür gab es keinen Grund.«
»Sie waren lediglich seine Tutorin, nicht wahr?«
Lauren stand auf, Zorn blitzte in ihren Augen. »Was wollen Sie damit sagen? Wollen Sie mir etwas unterstellen?«
Banks hob die Hand. »Pssst. Immer mit der Ruhe. Ich hab nur gedacht, vielleicht hat er Sie als Freundin oder Mentorin betrachtet, an die er sich wenden konnte, wenn er in Schwierigkeiten steckte.«
»Nun, hat er nicht. Zufälligerweise war ich am vorletzten Montag auch gar nicht da.«
»Wo waren Sie denn?«
»Bei meinem Bruder Vernon.«
»Und wo wohnt Vernon?«
»In Harrogate.«
»Wann sind Sie losgefahren?«
»Gegen fünf. Kurz nach fünf.«
»Und wann sind Sie zurückgekommen?«
»Gar nicht. Um ehrlich zu sein, hab ich ein bisschen zu viel getrunken. Jedenfalls zu viel, um zu fahren. Ich hab bei Vernon auf dem Sofa geschlafen. Ich war erst gegen Dienstagmittag wieder zu Hause.«
Banks warf Annie einen Blick zu, die ihr Notizbuch zur Seite legte und das Phantombild aus der Aktentasche holte. »Haben Sie dieses Mädchen schon mal gesehen, Ms. Anderson?«, fragte sie. »Überlegen Sie genau!«
Lauren betrachtete die Zeichnung und schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich kenne den Look, aber das Gesicht kommt mir nicht bekannt vor.«
»Keine Schülerin von Ihnen?«
»Wenn ja, dann erkenne ich sie nicht.«
»Wir vermuten, dass es eventuell Lukes Freundin war«, sagte Banks. »Wir versuchen, sie zu finden.«
Lauren schaute Banks kurz an. »Seine Freundin? Aber Luke hatte keine Freundin.«
»Woher wollen Sie das wissen? Sie haben doch gesagt, er hätte Ihnen nicht alles erzählt.«
Sie nestelte an ihrem V-Ausschnitt. »Aber ... aber das hätte ich gewusst.«
»Wieso denn?«, sagte Banks. »Was ist zum Beispiel mit Rose Barlow?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Ich hab gehört, dass sie und Luke sich ziemlich nahe standen.«
»Wer hat das erzählt?«
»Stimmt das?«
»Ich glaube, die beiden haben sich Anfang des Jahres ein- oder zweimal verabredet. Aber Rose Barlow kann Luke nicht im entferntesten das Wasser reichen. Sie ist nur gut, wenn sie büffelt.«
»Also war da nichts ?«
»Mir ist nichts bekannt. Aber wie Sie schon sagten, ich hätte es nicht unbedingt erfahren.«
Banks und Annie erhoben sich. Lauren brachte sie zur Tür.
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben«, sagte Banks. »Und wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, sagen Sie uns Bescheid, ja?«
»Sicher. Wenn ich irgendwie helfen kann«, sagte Lauren. »Und ich hoffe, dass Sie den Täter finden. Luke hatte so eine vielversprechende Zukunft vor sich.«
»Keine Sorge«, sagte Banks zuversichtlicher, als ihm zumute war. »Wir finden ihn.«
Seit dem Telefongespräch mit Banks erwog Michelle, Shaw mit ihren Entdeckungen zu konfrontieren. Für jemanden mit Zugangsberechtigung war es kinderleicht, Merkbücher und Tätigkeitsberichte aus den Archivkisten zu entfernen. Michelle selbst hätte es tun können - wer würde da einen Beamten von Shaws Rang zur Rede stellen?
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