Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
der Antwort. »Gut«, sagte er. »Schön. Schön. Schlafen Sie sich aus. Und morgen sehen wir uns in alter Frische.«
Der Pub lag näher zum Fluss als zur Stadtmitte hin, aber auch die war nicht weit entfernt. Banks parkte am Rivergate Center und ging den Rest zu Fuß. Der Abend war angenehm, in der warmen Luft regte sich kein Blatt. Die untergehende Sonne färbte den Himmel in strahlenden Orange- und Rottönen. Tief am Himmel stand die Venus, auch die anderen Sternbilder traten langsam hervor. Banks hätte gerne alle Namen gewusst, aber er kannte nur Herkules. Das erinnerte ihn an die schrecklichen Historienschinken in den frühen Sechzigern, die er damals so toll fand, an die billigen Spezial-effekte, an Steve Reeves und die spärlich bekleidete Sylva Koscina.
Michelle kam fünf Minuten zu spät, Banks hatte schon mit einem Glas Bitter an einem Ecktisch Platz genommen. Der Raum war klein und verraucht, die meisten Gäste standen am Tresen, die Videospiele schwiegen gnädig. Aus dem Lautsprecher klang leise Hintergrundmusik, moderner Pop, den Banks nicht kannte. Michelle trug eine grüne Bluse, die sie in ihre enge schwarze Hose gesteckt hatte. Über die Schulter hatte sie eine helle Wildlederjacke geworfen. So sportlich gekleidet hatte Banks sie noch nie gesehen. Es sah klasse aus. Michelle hatte sich die Haare schneiden lassen, stellte er fest; nichts Besonderes, nur Spitzen und Pony gestutzt und neue Strähnchen. Und sie war leicht geschminkt, hatte ihre grünen Augen und hohen Wangenknochen betont.
Anfangs schien sie sich ihres Aussehens zu schämen, sie wich seinem Blick aus. Erst als er sie fragte, was sie trinken wolle, und sie antwortete, ein trockener Weißwein wäre ihr recht, schenkte sie ihm einen Blick und ein schüchternes Lächeln.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Michelle, als Banks das Glas abgestellt und sich hingesetzt hatte.
»Keine Ursache«, sagte Banks. »Ich wäre sowieso morgen zur Beerdigung gefahren, es war also kein Problem, einen Abend früher zu kommen.«
»Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben.«
»Ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Aber glücklicherweise hatten wir gerade einen Durchbruch, kurz bevor ich losgefahren bin.« Banks berichtete, dass sie Luke Armitages Tasche in der Wohnung von Liz Palmer gefunden hatten.
»Der Arme«, sagte Michelle. »Er war doch nicht viel älter als Graham Marshall, oder?«
»Ungefähr ein Jahr.«
»Warum wird ein Junge in dem Alter umgebracht? Was soll der getan haben?«
»Weiß ich nicht. Deshalb nimmt man wahrscheinlich immer an, dass es ein Kinderschänder war, wenn das Opfer so jung ist. Dass Erwachsene aus Habgier oder zur Vertuschung umgebracht werden, können wir uns vorstellen, aber bei Kindern ist das schwer. Nun, es sah nach einer Entführung aus, aber da habe ich so meine Zweifel. Und wie läuft es bei Ihnen? Gibt's was Neues?«
Michelle fasste das Gespräch mit dem pensionierten Inspector Robert Lancaster in London zusammen und vergaß dabei nicht zu erwähnen, dass Graham für sein Alter unheimlich gerissen gewesen sein soll.
»Der alte Inspector meinte also, Graham hätte Karriere als Verbrecher machen können?«, fragte Banks. »Das ist interessant.«
»Wieso? Ist Ihnen was eingefallen?«
»Eigentlich nichts. Nur dass Graham immer viel Geld hatte und ich nie wusste, wo es herkam.«
»Es ist noch was passiert«, sagte Michelle. Sie zögerte und wich Banks' Blick aus.
»Ja?«
»Am Samstag, als ich in London war, ist jemand in meine Wohnung eingebrochen.«
»Fehlt was?«
»Mir ist bisher nichts aufgefallen, es ist bloß alles ein bisschen durcheinander. Aber der Einbrecher hat sich gründlich in meinen Computerdateien umgesehen.«
Banks hatte das Gefühl, dass Michelle etwas verschwieg, aber er bedrängte sie nicht. Sie hatte wahrscheinlich einen guten Grund dafür, vielleicht war es ihr peinlich. Sie würde ihm wohl kaum schildern wollen, dass jemand ihre Unterwäsche durchwühlt hatte. »Ist da was drauf?«
»Nicht viel. Persönliche Notizen. Spekulationen.«
»Über den Fall?«
»Teilweise.«
»Haben Sie Anzeige erstattet?«
»Natürlich nicht, unter diesen Umständen.«
»Wie wurde die Tür geöffnet?«
»Mit irgendeinem Trick.« Michelle lächelte. »Keine Sorge, ich hab das Schloss auswechseln lassen. Der Schlüsseldienst hat mir versichert, jetzt wäre die Wohnung so uneinnehmbar wie
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