Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
eine Festung.«
»Sonst noch was?«
»Kann sein.«
»Was meinen Sie damit?«
»Als ich gestern in der Hazels-Siedlung die Straße überqueren wollte, hat mich beinahe ein Lieferwagen umgefahren.«
»Beinahe?«
»Ja, es ist nichts passiert. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es war Absicht.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer es war?«
»Das Kennzeichen war verschmutzt.«
»Eine Vermutung?«
»Hm, ich sage es nicht gerne, aber die fehlenden Merkbücher und Tätigkeitsberichte bringen mich immer wieder auf Shaw. Bloß fällt es mir wirklich schwer zu glauben, dass er zu so etwas fähig sein soll.«
Banks fiel diese Vorstellung nicht schwer. Er hatte schon mit korrupten Kollegen zu tun gehabt, er hatte sie gut genug gekannt, um zu wissen, dass sie zu allem fähig waren, wenn sie in die Ecke getrieben wurden. Außerdem waren viele Bullen so geübt im Schlösserknacken wie Einbrecher. Aber warum fühlte sich Shaw in die Ecke getrieben? Was hatte er getan? Banks hatte immer den ruhigen jungen Mann mit Sommersprossen, rotem Haar und abstehenden Ohren vor Augen, nicht den aufgeschwemmten, rotnasigen Grantier, zu dem Shaw geworden war. »Shaw hat damals zusammen mit Inspector Praetor gearbeitet, nicht?«
»Mit Reg Praetor, ja. Er ist 1975 vorzeitig in Pension gegangen und 1978 an Leberkrebs gestorben. Ist nur siebenundvierzig geworden.«
»Gab's Gerüchte? Einen Skandal?«
Michelle trank einen Schluck Wein und schüttelte den Kopf.
»Konnte nichts finden. Proctor hatte eine beispielhafte Laufbahn hingelegt.«
Mit Michelles Erlaubnis zündete sich Banks eine Zigarette an. »Shaw und Proctor waren die beiden Beamten, die damals bei uns waren«, sagte er. »Scheinbar hatten sie die Aufgabe, die Freunde von Graham und die Leute in der Siedlung zu befragen. Es gab mit Sicherheit weitere Teams mit anderen Aufgaben, aber aus irgendeinem Grund hat jemand Shaws Notizen verschwinden lassen. War es vielleicht Shaw selbst?«
»Er war damals noch Constable«, warf Michelle ein.
»Stimmt. Was kann er zu verbergen gehabt haben? In seinen Merkbüchern muss was gestanden haben, das jemand anderen belastet hat. Vielleicht Harris oder Proctor.«
»Möglicherweise fehlten die Bücher schon, als Harris 1985 in Pension ging«, sagte Michelle. »Oder sie sind schon vor Proctors Tod 1978 verschwunden.«
»Aber warum? Es gab doch all die Jahre keinen Grund, da reinzusehen. Graham ist seit 1965 verschwunden. Warum sollte man in dem alten Papierkram herumwühlen? Doch wohl nur mit einem zwingenden Grund! Ich kann mir keinen zwingenderen Grund vorstellen, als dass die Leiche gefunden und der Fall neu aufgerollt wird.«
»Stimmt«, sagte Michelle.
»Die Tätigkeitsberichte zeigen uns, wie die Ermittlung gelaufen ist«, sinnierte Banks. »Die meisten Anweisungen wird Jet Harris selbst erteilt haben. Dadurch können wir nachvollziehen, in welche Richtung die Ermittlung ging.«
»Wir kommen immer wieder auf diesen manipulierten Ansatz zurück«, sagte Michelle. »Shaw hat sogar eine Andeutung gemacht, alle hätten gewusst, dass es Brady und Hindley waren.«
»Das ist doch Quatsch mit Soße«, sagte Banks.
»Von der Zeit her kommt es hin.«
»Das ist aber auch alles. Da kann man ja gleich behaupten, es wären Reggie und Ronnie gewesen.«
»Vielleicht waren sie's ja.«
Banks lachte. »Das ergibt genauso wenig Sinn wie Brady und Hindley. Die haben ihr Unwesen ganz woanders getrieben. Nein, hier geht's um was anderes. Wir kommen bloß nicht drauf, weil zu viele Puzzleteile fehlen. Noch ein Glas?«
»Hol ich selbst.«
Michelle ging zur Theke. Banks zerbrach sich den Kopf. Bisher hatte es nur eine Ermittlung gegeben, die lediglich eine Hypothese verfolgt hatte: War der Täter ein zufällig vorbeikommender Päderast gewesen? Jetzt hatten sie Bill Marshall, der Verbindungen zu den Krays, Carlo Fiorino und dem Le Phonographe hatte. Inzwischen war Banks wieder eingefallen, dass Graham immer viel Geld besessen hatte. Und die Akten fehlten. Graham, Bill Marshall, Carlo Fiorino - und wo war der Haken? Welche Rolle hatte Jet Harris gespielt? War er geschmiert worden, hatte Fiorino ihn bezahlt, um sich Ärger vom Leib zu halten? Jet Harris, der korrupte Bulle. Das Präsidium würde sich freuen. Aber was hatte das mit dem Mord an Graham zu tun?
Michelle kam mit den Gläsern zurück. Sie erzählte Banks von Donald
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