Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Augenwinkel sah sie das Foto von Ted und Melissa und bekam ein schlechtes Gewissen. Doch das war schnell vorbei, schon spürte sie wieder die neue Leichtigkeit, die schwebende Sorglosigkeit. Sie war müde, aber bevor sie sich zur Ruhe legte, ging sie in die Küche, zog eine Bücherkiste hervor und blätterte in verschiedenen Büchern herum, bevor sie sie ins Regal stellte. Das meiste war Lyrik. Sie liebte Lyrik. Besonders Philip Larkin. Dann machte sie sich an eine Kiste mit Porzellan und Küchengeräten. Mit Blick auf die fast gänzlich leeren Schränke überlegte sie, was sie wohin stellen wollte.
* 18
Auf dem Weg nach Swainsdale Hall zerbrach Annie sich den Kopf, was sie den Armitages erzählen sollte. Sie hatten nur wenig über das Leben ihres Sohnes gewusst. Seine Freunde kannten sie nicht oder mochten sie nicht. Besonders der Stiefvater hatte seine eigenen Vorstellungen. Aber war das nicht immer so ? Annie war in einer Künstlerkommune in der Nähe von St. Ives mit Leuten aufgewachsen, bei denen Martin Armitage die Haare zu Berge stehen würden. Und trotzdem hatte sie ihrem Vater verheimlicht, mit welchen Freunden sie einen Sommer lang durch die Gegend gezogen war. Die hatten sich samstagnachmittags die Langeweile mit Ladendiebstahl vertrieben.
Düster lag Swainsdale unter tief hängenden Wolken. Die trüben Grau- und Grüntöne kündigten Regen an. Selbst die gelben Rapsteppiche auf den fernen Hängen hatten eine ungesunde Farbe. Als Annie auf den Klingelknopf drückte, stieg wieder Angst in ihr auf. Gleich würde sie Martin Armitage wiedersehen. Das war albern, er würde ja nicht auf Annie losgehen - nicht in Anwesenheit seiner Frau -, aber Annies Kiefer schmerzte immer noch, zwei Zähne waren locker, und der Zahnarztbesuch stand ihr noch bevor. Der würde sie nachhaltig an die Begegnung mit Armitage erinnern.
Josie öffnete die Tür. Der Hund beschnüffelte Annie im Schritt. Josie zog Miata am Halsband und brachte sie weg. Auf der Couch im großen Wohnzimmer saß Robin Armitage in Jeans und dunkelblauem Pullover und blätterte in einer Vogue herum. Annie war erleichtert. Vielleicht war Martin unterwegs. Mit ihm reden musste sie auf jeden Fall, aber ein kleiner Aufschub kam ihr ganz gelegen. Robin war nicht geschminkt und schien seit Lukes Tod stark gealtert. Sie stand auf, lächelte Annie an und bat sie, sich hinzusetzen. Dann beauftragte sie Josie, Kaffee zu bringen.
»Ist Ihr Mann nicht zu Hause?«, erkundigte sich Annie.
»Er ist im Arbeitszimmer. Wenn Josie gleich den Kaffee bringt, sage ich ihr, dass sie ihm Bescheid geben soll. Kommen Sie vorwärts?«
»Doch, langsam«, sagte Annie. »Deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich habe noch ein paar Fragen.«
»Geht es Ihnen besser? Ihre Lippe ist immer noch dick.«
Annie legte die Hand auf die Wange. »Geht schon.«
»Es tut mir wirklich Leid, was passiert ist. Martin macht sich riesige Vorwürfe.« Robin rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Er muss seinen ganzen Mut zusammennehmen, um runterzukommen und Ihnen in die Augen zu sehen.«
»Ich bin nicht nachtragend«, sagte Annie. Das war zwar gelogen, aber sie musste es Robin ja nicht auf die Nase binden.
Josie trug ein Tablett mit Kaffee und Vollkornplätzchen herein. Robin bat sie, Mr. Armitage zu holen. Als der Hausherr kurz darauf das Wohnzimmer betrat, bekam Annie Beklemmungen. Langsam beruhigte sie sich, aber ihr Herz klopfte schnell, und ihr Mund war trocken. Das ist albern, redete sie sich ein, aber ihr Körper reagierte unwillkürlich auf Martin Armitages latente Aggressivität. Sie war deutlich spürbar.
Armitage war zerknirscht. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich habe noch nie in meinem Leben einer Frau etwas zuleide getan.« Robin tätschelte ihm das Knie.
»Schon gut«, sagte Annie. Sie wollte weitermachen.
»Kann ich vielleicht Ihre Arztkosten übernehmen ...?«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken.«
»Wie geht es Mr. Wells?«
Annie hatte mit dem Krankenhaus gesprochen und erfahren, dass Norman Wells' Verletzungen zwar äußerlich gut verheilten, die psychischen Narben aber viel tiefer gingen. Er hatte offenbar Depressionen. Er könne nicht schlafen, wolle aber auch nicht aus dem Bett, würde nichts essen und stelle sich nicht seinen Problemen. Keine große Überraschung, dachte Annie. Was hatte der arme Kerl in den
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