Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
habe.«
»Runterdrehen, mehr nicht?«
»Nein. Sag meinetwegen, ich bin übervorsichtig, aber ich blas die Suche nicht ab, ehe ich Luke Armitage mit eigenen Augen gesund und munter bei seinen Eltern sehe.«
»Das würde ich nicht übervorsichtig nennen«, sagte Banks. »Das nenne ich sehr vernünftig.«
Annie beugte sich vor und gab Banks einen Kuss auf die Wange. »War wirklich schön, dich wiederzusehen, Alan. Melde dich.«
»Mach ich«, sagte Banks und sah ihr nach. Ein Hauch von Grapefruit-Seife wehte ihr hinterher, und der weiche Druck ihres Kusses war noch auf seiner Wange zu spüren.
* 4
Anfangs schien es eine ganz simple Frage zu sein: Wo waren die Akten des Graham-Marshall-Falls? Tatsächlich wurde es die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Fast zwei volle Tage verbrachten Michelle und ihr Detective Constable Nat Collins damit.
Zuerst hatten sie es auf der Bridge Street im Stadtzentrum versucht, wo bis zur Eröffnung von Thorpe Wood 1979 das Präsidium untergebracht war, dann waren Michelle und Collins von einer Wache zur nächsten gefahren, kreuz und quer durch die Northern Division: Bretton, Orton, Werrington, Yaxley, Hampton. Viele Dienststellen waren ziemlich neu. Die 1965 genutzten Gebäude waren längst abgerissen und durch Neubausiedlungen oder Einkaufszentren ersetzt worden. Noch komplizierter wurde es, weil die ursprünglichen Polizei-Inspektionen von Cambridge, Peterborough, Ely und Huntingdon 1965 zur Polizei Mid-Anglia zusammengelegt worden waren, was größere Umstrukturierungen nach sich gezogen hatte. 1974 war sie zur Polizei Cambridgeshire umbenannt worden.
Ein Constable nach dem anderen machte hilfreiche Vorschläge, aber irgendwann hatte Michelle die Hoffnung fast aufgegeben, die alten Unterlagen noch zu finden. Positiv war nur, dass sich das Wetter im Laufe des Vormittags verbessert hatte. Träge bemühte sich die Sonne, die graue Wolkendecke zu durchdringen. Es wurde schwüler, und gegen Mittag hätte Michelle am liebsten das Handtuch geworfen. Am vergangenen Abend hatte sie zu viel Wein getrunken - das kam momentan öfter vor -, so richtig auf dem Damm war sie nicht.
Erst als sich Collins auf ihre Anweisung hin in Cambridge erkundigte, bekamen sie den entscheidenden Hinweis. Michelle hätte sich ohrfeigen können: Die Unterlagen waren tief in den Katakomben der Hauptdienststelle vergraben, keine zehn Meter unter ihrem eigenen Büro, und die Archivangestellte, Mrs. Metcalfe, erwies sich als wahre Fundgrube an Informationen. Michelle durfte mehrere Ordner ausleihen. Warum war sie nicht sofort auf die Idee gekommen, im Keller nachzuschauen? Weil sie noch nicht lange in Thorpe Wood war und niemand sie herumgeführt hatte; sie wusste schlicht und einfach nicht, dass im Keller ein Großteil der alten Akten lagerte.
Der Lärmpegel im Großraumbüro war hoch, Telefone klingelten, Männer lachten über dreckige Witze, Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen, doch nachdem Michelle ihre Lesebrille aufgesetzt und den ersten Ordner aufgeschlagen hatte, gelang es ihr, den Radau zu vergessen. Der Ordner enthielt Straßenkarten und Fotos der Hazels-Siedlung, außerdem eine Zusammenfassung aller wichtigen Zeugenaussagen, aus denen man Grahams Runde am Morgen des 22. August 1965 rekonstruiert hatte.
Eine nützliche Skizze zeigte detailliert Grahams Zeitungstour, führte alle von ihm belieferten Häuser und, der Vollständigkeit halber, die dort zugestellten Zeitungen auf. Der arme Kerl hatte eine Menge zu schleppen gehabt, viele Sonntagszeitungen enthielten Magazine und Beilagen.
Am östlichen Ende der Siedlung trennte die Wilmer Road die Hazels von einem Abschnitt älterer Häuser, die später abgerissen worden waren. An der Kreuzung von Wilmer Road und Hazel Crescent hatte Graham seine letzte Zeitung, die News of the World, im Eckhaus von Mr. und Mrs. Halloran abgegeben.
Sein nächstes Ziel wäre eines der Häuser auf der anderen Straßenseite gewesen, aber die Lintons sagten aus, sie hätten ihren Observer an dem Tag nicht bekommen. Auch sonst erhielt niemand auf der anderen Seite der Wilmer Road eine Zeitung.
Der ungenannte Zeichner der Skizze hatte außerdem berechnet, dass es ungefähr halb sieben gewesen sein musste, als Graham - er fing um sechs Uhr an - zu besagtem Abschnitt seiner Runde kam. Es war zwar schon hell gewesen, aber noch zu früh für Verkehr oder Fußgänger. Schließlich war Sonntag. Man schlief
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