Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
möglich unter dem Tisch an der Strumpfhose und widmete sich wieder den Akten. Soweit sie auf den ersten Blick erkennen konnte, hatte es damals keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Die Polizei hatte jeden auf Grahams Runde, all seine Freunde, die Familie und Lehrer befragt. Ohne irgendeinen Erfolg. Graham wurde als klug, frech, still, höflich, unverschämt, lieb, verdorben, begabt und verschlossen geschildert. Das deckte so gut wie jeden Charakterzug ab.
Niemand auf der Wilmer Road hatte an jenem Morgen etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört - weder Schreie, Rufe noch Kampfgeräusche -, lediglich ein Zeuge sagte aus, er habe gegen halb sieben eine Autotür schlagen hören. Es gab keine Hundebesitzer, die Gassi gingen, und selbst die frommsten Kirchgänger - die Anwohner waren hauptsächlich Methodisten oder Low Anglicans - schlummerten noch selig in ihren Betten. Alle Indizien, insbesondere die fehlende Zeitungstasche, sprachen dafür, dass Graham freiwillig zu einem Bekannten ins Auto gestiegen war. Aber zu wem? Und warum?
Collins kam mit Michelles Cola light zurück. »Schokoladenkuchen gab's leider nicht mehr«, sagte er. »Hab dafür ein Stück Plunder mitgebracht.«
»Danke«, sagte Michelle. Sie mochte zwar keinen Plunder, gab Collins aber dennoch das Geld und knabberte ein wenig am Gebäck herum. Schließlich warf sie den Rest in den Papierkorb und machte sich wieder an die Akten. Die Coladose war kalt und feucht. Michelle drückte sie auf ihre erhitzten Wangen und die Stirn. Angenehm erfrischend.
Damals hatte die Polizei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass Graham auf eigene Faust fortgelaufen war, sich irgendwo der Tasche mit den Zeitungen entledigt hatte und, wie so viele Jugendliche Mitte der Sechziger, zu den glitzernden Lichtern Londons aufgebrochen war. Aber es fand sich kein Indiz, das diese These bestätigt hätte. Zu Hause schien Graham einfach glücklich gewesen zu sein, und seine Freunde konnten sich nicht erinnern, dass Graham davon gesprochen hatte, auszureißen. Auch die Tasche wurde nie gefunden. Dennoch wurden Vermisstenanzeigen im ganzen Land verteilt, und natürlich gab es Meldungen, man habe ihn irgendwo gesehen, aber es kam nichts dabei heraus.
Die Befragungen liefen ins Leere, die polizeiliche Überprüfung verschiedener Nachbarn blieb ergebnislos. Michelle spürte eine gewisse Aufregung zwischen den Zeilen, als die Polizei herausfand, dass eines der Häuser auf Grahams Tour einem Mann gehörte, der wegen Selbstentblößung in einem nahe gelegenen Park eine Haftstrafe verbüßt hatte. Doch die darauf folgenden Befragungen - ganz bestimmt nicht mit Samthandschuhen durchgeführt, man kannte ja die damaligen Polizeimethoden und Jet Harris' Ruf als harter Knochen - erbrachten keine Erkenntnisse, und so ließ man den Mann wieder laufen.
Michelle nahm die Lesebrille ab und rieb sich die müden Augen. Sie musste zugeben, dass es auf den ersten Blick so aussah, als sei Graham Marshall vom Erdboden verschluckt worden. Aber sie wusste etwas, dass der Polizei 1965 nicht bekannt gewesen war. Michelle hatte die Knochen gesehen und wusste, dass Graham ermordet worden war.
Am Vormittag fuhr Annie Cabbot nach Swainsdale Hall hinaus, um einige offene Fragen mit den Armitages zu klären. Endlich war die Sonne auch in die Yorkshire Dales gekommen. Entlang der Straße und von den Feldern, die sich hügel-an erstreckten, stieg Nebel auf. Nach all dem Regen war das Gras saftig grün, die Kalksteinmauern und Hauswände glänzten sauber. Der Ausblick vor Swainsdale Hall war herrlich, hinter Fremlington Edge konnte Annie blauen Himmel sehen, nur ein paar leichte flauschige Wölkchen trieben vorbei.
Die Armitages mussten erleichtert sein, dachte Annie, als sie aus dem Auto stieg. Natürlich wären sie noch glücklicher, wenn sie Luke wieder in den Armen halten könnten, aber wenigstens wussten sie, dass es ihm gut ging.
Josie öffnete die Tür und schien überrascht, Annie zu sehen. Miata war diesmal nicht da, aber Annie hörte den Hund irgendwo hinten im Haus bellen.
»Tut mir Leid, dass ich nicht vorher angerufen habe«, sagte Annie. »Sind die Armitages da?«
Josie trat zur Seite und ließ Annie zu dem großen Wohnzimmer durch, in dem sie auch am Vortag gewesen war. Diesmal war nur Robin Armitage da. Sie saß auf dem Sofa und blätterte durch eine Vogue. Als Annie eintrat, sprang sie auf und glättete ihren Rock. »Sie sind's. Ist was passiert?
Weitere Kostenlose Bücher