Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
ist, wenn Sie sich vor Augen führen, aus welchen Gründen Menschen nicht die Wahrheit sagen. Wie gesagt, wir trauen nicht dem äußeren Schein, weder Gegenständen noch Menschen, und ob es Ihnen passt oder nicht, jede Mordermittlung setzt im engsten Umfeld des Opfers an und zieht von dort ihre Kreise. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, würden wir uns jetzt gerne Lukes Zimmer ansehen.«
Es hatte ein Witz sein sollen, als Michelle Banks sagte, sie bekäme langsam Verfolgungswahn, aber inzwischen verstärkte sich ihr Eindruck, dass Mrs. Metcalfe jedes Mal, wenn Michelle ins Archiv kam, Detective Superintendent Shaw Bescheid sagte. Jetzt war er schon wieder da. Er stand auf der Schwelle des kleinen Raums und warf einen kühlen Schatten.
»Gibt's was Neues?«, fragte er, gegen die Tür gelehnt.
»Bin mir nicht sicher«, erwiderte Michelle. »Ich hab in den alten Berichten von 1965 nach einem Hinweis auf Grahams Verschwinden gesucht.«
»Und, was gefunden?«
»Nicht direkt, nein.«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass es Zeitverschwendung ist.«
»Vielleicht nicht vollkommen.«
»Wie meinen Sie das?«
Michelle schwieg. Sie musste aufpassen, was sie sagte, denn sie wollte nicht, dass Shaw von Banks' Tipp mit den Krays erfuhr. Er bekäme einen Wutanfall, auf den sie gut verzichten konnte. »Ich hab die Protokolle und Aussagen über eine Ermittlung wegen Schutzgelderpressung im Juli 1965 gelesen, und da taucht der Name von Grahams Vater auf.«
»Und? Wo soll da eine Verbindung sein?«
»Ein Club mit dem Namen Le Phonographe auf der Church Street.«
»Kenne ich. Das war eine Diskothek.«
Michelle runzelte die Stirn. »Ich dachte, Diskos kamen erst in den Siebzigern auf, nicht in den Sechzigern.«
»Ich rede nicht von der Diskomusik, sondern von der Einrichtung als solcher. In Clubs wie Le Phonographe war man Mitglied, man konnte da was essen, meistens ungenießbare Frikadellen, wenn ich mich recht erinnere, deshalb durften sie nach der Sperrstunde Alkohol verkaufen. Oft waren die Clubs bis drei Uhr morgens geöffnet. Es gab Musik, man konnte tanzen, meistens Motown und Soul.«
»Hört sich an, als hätten Sie sich da ausgekannt.«
»Ich war auch mal jung, Inspector Hart. Außerdem gehörte Le Phonographe zu den Läden, die man im Auge behalten musste. War ein Ganovenladen. Gehörte einem schlimmen Finger, einem gewissen Carlo Fiorino. Tat gerne so, als wär er bei der Mafia, lief in Nadelstreifenanzügen mit weißen Aufschlägen rum, dazu so ein dünner Schnauzer und Gamaschen wie in Die Unberührbaren. Dabei war sein Vater bloß ein Kriegsgefangener aus Italien. Blieb nach dem Krieg hier hängen und hat oben in der Nähe von Huntingdon ein Bauernmädchen geheiratet. Im Le Phonographe haben sich immer viele Halbseidene rumgetrieben, da bekam man schon mal den einen oder anderen Tipp. Und damit meine ich nicht für das Rennen um halb vier in Kempton Park.«
»Also war es ein Treffpunkt der Unterwelt?«
»Damals ja. Aber kleine Fische. Die bildeten sich bloß ein, sie wären die großen Macher.«
»Unter anderem Bill Marshall?«
»Ja.«
»Also wussten Sie über Bill Marshalls Machenschaften Bescheid?«
»Natürlich. Aber er war unterste Kategorie. Wir haben ihn im Auge behalten. Routine.«
»Was machte dieser Fiorino?«
»Von allem etwas. Als die Zuzügler vom New-Town-Programm kamen, hat er seinen Club ganz schnell aufgemöbelt, ordentliches Essen, bessere Tanzfläche und sogar ein Casino. Außerdem hatte er eine Begleitagentur. Wir vermuten, dass er auch mit Drogen, Prostitution und Pornographie zu tun hatte, aber er war gerissen, war uns immer einen Schritt voraus. Hat die Leute auch gerne gegeneinander ausgespielt. Bis es schief ging.«
»Was heißt das?«
»1982 wurde er erschossen in einem Drogenkrieg gegen die Jamaikaner.«
»Aber gesessen hat er nie?«
»Er stand nie vor Gericht, soweit ich mich erinnern kann.«
»Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?«
»Seltsam?« Shaw wurde aus seinen Erinnerungen gerissen und sah wieder mürrisch aus. Er kam Michelle so nah, dass sie Tabak, Pfefferminz und Whisky in seinem Atem riechen und das Netz violetter Äderchen auf seiner Knollennase sehen konnte. »Ich sag Ihnen mal, was richtig seltsam ist, Inspector Hart. Ihre komischen Fragen, die sind seltsam. Das alles kann nie und nimmer was mit Graham Marshalls Schicksal zu tun haben.
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