Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Frechheit, mir zu sagen, wir hätten uns geirrt.«
Michelle holte tief Luft. »Ich sage ja nicht, dass Sie sich geirrt haben. Aber gelöst haben Sie den Fall auch nicht, oder? Sie haben nicht mal die Leiche gefunden. Ich weiß, Sie haben sich hart nach oben gearbeitet, und davor habe ich Respekt, aber unsere Ausbildung heute hat auch ihre Vorteile.«
»Allerdings. Beschleunigte Beförderungsverfahren. Die lassen euch armen Schweine loslaufen, bevor ihr auf beiden Beinen stehen könnt.«
»Die Polizeiarbeit hat sich verändert, wie Sie selbst eben gesagt haben. Und die Verbrechen haben sich auch geändert.«
»So eine bescheuerte Theorie! Kommen Sie mir bloß nicht mit Ihren schlauen Büchern. Ein Verbrecher ist ein Verbrecher. Nur die Bullen sind laxer geworden. Besonders die ganz oben.«
Michelle seufzte. Deeskalationstechnik war jetzt angesagt. »Sie waren damals Constable im Graham-Marshall-Fall. Können Sie mir noch irgendwas darüber sagen?«
»Hören Sie, wenn ich irgendwas gewusst hätte, dann hätten wir den verdammten Fall gelöst, ja? Dann bräuchten Sie mir jetzt nicht zu erklären, wie blöd wir uns angestellt haben.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ach, nein? So kommt das aber bei mir an. Hinterher ist man immer klüger, da hat man ja alles vor sich liegen. Wenn Bill Marshall etwas mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun gehabt hätte, glauben Sie mir, dann hätten wir ihn dran-gekriegt. Aber erstens hatte er ein Alibi...«
»Von wem?«
»Von seiner Frau.«
»Nicht gerade besonders glaubhaft, oder?«
»Sie hätte ihm ja wohl kaum ein Alibi gegeben, wenn er ihren eigenen Sohn um die Ecke gebracht hätte, oder? Nicht mal Sie können so pervers sein, dass Sie glauben, Mrs. Marshall hätte etwas damit zu tun gehabt.«
»Das wissen wir nicht, oder?« Aber Michelle erinnerte sich an Mrs. Marshalls Aufrichtigkeit und Würde, an ihr Bedürfnis, den Sohn nach so vielen Jahren zu bestatten. Sicher war es möglich, dass sie log. Manche Verbrecher waren gute Schauspieler. Aber Michelle glaubte es nicht. Und von Bill Marshall würde sie keine Antworten bekommen. »Hatten die Marshalls ein Auto?«
»Ja. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich noch Marke und Kennzeichen weiß. Bill Marshall mag ja ein kleiner Gauner gewesen sein, aber er war kein Kinderschänder.«
»Woher wissen Sie denn, dass Grahams Entführung ein Sittlichkeitsverbrechen war?«
»Schalten Sie doch mal Ihr Gehirn ein! Warum sonst sollte ein Vierzehnjähriger spurlos verschwinden ? Wenn Sie mich fragen, würde ich heute noch sagen, dass er ein Opfer von Brady und Hindley geworden ist, auch wenn wir es nie beweisen können.«
»Aber das war doch eine ganz andere Gegend. Ein geografischer Profiler ...«
»Die Früchte der Universitätsausbildung! Profiler? Dass ich nicht lache. Es reicht mir jetzt. Wird Zeit, dass Sie aufhören, hier unten rumzuschnüffeln. Machen Sie verdammt noch mal Ihre Arbeit!« Shaw stolzierte hinaus.
Michelles Hand zitterte, sie hielt den Atem an. Sie hasste Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten; eigentlich hatte sie ihre Chefs und die Polizeihierarchie immer respektiert; eine Institution wie die Polizei brauchte eine quasimilitärische Struktur, um effektiv arbeiten zu können, davon war sie überzeugt. Anweisungen mussten befolgt werden, ohne Wenn und Aber, wenn es hart auf hart kam. Dennoch fand sie Shaws Wut überzogen.
Michelle stand auf, stellte die Aktenordner in die Kisten und schob die Notizen zusammen. Mittag war längst vorbei, es war Zeit für ein bisschen frische Luft. Sie wollte ein wenig herumtelefonieren, vielleicht würde sie jemanden finden, der während der Kray-Ära in London gearbeitet hatte. Dann könnte sie morgen nach London fahren.
Im Büro lag eine Nachricht auf ihrem Schreibtisch, Dr. Cooper habe angerufen und wolle wissen, ob Michelle am Nachmittag kurz im Leichenschauhaus vorbeikommen könne. Was du heute kannst besorgen ..., dachte sie und sagte Constable Collins Bescheid. Dann ging sie zum Auto.
Die Durchsuchung von Lukes Zimmer war unergiebig; Banks fand lediglich eine Kassette mit der Aufschrift »Songs from a Black Room«, die er mit Robins Erlaubnis einsteckte, um sie später zu hören. Auf Lukes Computer war nichts Interessantes zu entdecken. Er hatte wenige E-Mails - wie zu erwarten -, und die meisten von ihm besuchten Web-Sites hatten mit Musik zu tun. Gelegentlich hatte er
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