Inspector Alan Banks 15 Eine seltsame Affäre
Gesichtsausdruck nicht deuten. Sie nahm an, dass die junge Frau sich zum Selbstschutz angewöhnt hatte, ihre Gefühle und Gedanken zu verbergen.
»Was ist passiert?«, fragte Carmen.
»Das erkläre ich später«, entgegnete Annie. »Ich freue mich, dass ich Sie endlich kennenlerne. Ich bin Annie Cabbot. Würden Sie mir ein paar Fragen beantworten?«
»Wo ist Hadeon?«
»Tot.«
»Gut. Und Artjom?«
»Wer ist das?«
»Ein großer Mann. Mit Pferdeschwanz.«
»Auch tot.«
»Das ist auch gut«, sagte sie und bewegte sich ein wenig. Annie sah ihr an, dass sie Schmerzen hatte. Vielleicht trat das Kind.
»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Annie. »Wie sind Sie hier gelandet?«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Carmen. »Und schon lange her. Ich wurde als junges Mädchen auf der Straße entführt.«
»Wie alt waren sie da?«
»Sechzehn.«
»Und von wem?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Von einem Mann.«
»Wo?«
»In einem Dorf in der Nähe von Craiova, in Rumänien. Kennen Sie nicht.«
»Sie waren bei Dr. Lukas im Berger-Lennox-Center?«
»Ja. Sie war gut zu mir.« Carmen griff nach ihren Zigaretten. »Sie wollte, dass ich aufhöre zu rauchen, aber ich habe gesagt, einen Fehler darf ein Mädchen haben. Ich trinke nicht und nehme keine Drogen.« Ihr Englisch war erstaunlich gut, fand Annie. Und sie verstand, was Veronika gemeint hatte, als sie sagte, Carmen sei schön. Sie besaß eine gewisse frühreife Kultiviertheit, eine Klasse, die man bei Frauen ihres Standes eigentlich nicht erwarten würde.
Annie fragte sich, wie Carmen ihr Leben ohne einen Gedanken an Flucht ertragen konnte, doch was wusste sie schon? Was konnte sie schon von jemandem wissen, der das durchgemacht hatte, was Carmen hinter sich hatte?
»Können Sie sich an Jennifer Clewes erinnern?«
»Ja. Sie arbeitet bei Dr. Lukas.«
»Sie ist auch tot, Carmen. Sie wurde umgebracht.«
Carmen war bestürzt. »Warum?«
»Das wissen wir nicht. Wir glauben, dass es etwas mit dem zu tun hat, was Sie ihr erzählt haben. Jennifer und ihr Freund wussten offenbar über etwas Bescheid, das hier vor sich ging. Haben Sie ihr irgendetwas verraten, als sie letzte Woche bei ihr waren?«
Carmen schaute auf ihren gewölbten Bauch herunter.
»Die Ärztin glaubte, wir machen das hier freiwillig«, sagte sie. »Ich habe ihr gesagt, sie weiß nicht, wie schlimm es ist, dass keine von uns freiwillig hier ist. Das habe ich Jennifer auch erzählt. Ich habe erzählt, was man mit den Mädchen macht. Ich hätte das nicht tun sollen. Ich glaube, ich fühlte mich mutig, weil ich gut behandelt werde, im Gegensatz zu den anderen.«
»Wann haben Sie Jennifer das erzählt?«
»Das letzte Mal, als ich in der Praxis war. Vor kurzem. Am Montag, glaube ich.«
»Wusste Artjom, dass Sie etwas verraten haben?«
»Er hat mich im Auto zurückgebracht und es Hadeon erzählt. Sie konnten mich nicht zwingen, ihnen alles zu sagen. Das wusste ich. Aber ...«
»Ich glaube, ich weiß Bescheid«, sagte Annie. »Sie haben damit gedroht, Ihren Eltern etwas anzutun, nicht wahr?«
»Ja«, flüsterte Carmen.
»Deshalb haben Sie es ihnen gestanden.«
»Ja.«
Annie nickte. »Dieses Haus in King's Cross«, sagte sie. »Da kommen wir gerade her. Die Mädchen dort werden furchtbar behandelt. So etwas habe ich noch nicht gesehen.«
»Ich bin dort gewesen. Hadeon sagt mir immer, dass ich Glück habe. Für mich zahlen die Männer Hunderte für eine Nacht, für die Mädchen drüben brauchen sie viele Männer, um dasselbe zu verdienen. Die Mädchen müssen hart für Hadeon arbeiten. Wenn ich nicht gut bin, will er mich dorthin bringen, sagt er immer. Ich bin froh, dass er tot ist.«
»Glauben Sie, dass er jemanden umbringt, der herausfindet, was er macht?«
Carmen nickte. »Harry hat einmal ein Mädchen mit bloßen Händen umgebracht, weil sie nicht mit ihm Sex machen wollte.«
»Arbeitete Artjom für ihn?«
»Ja. Und Boris.«
»Der mit dem kurzen blonden Haar?«
»Ja, das ist Boris.«
Der Fahrer, dachte Annie. »Unten war noch ein anderer Mann.« Annie beschrieb ihn. »Wissen Sie, wer das ist?«
»Ich weiß nur, dass er Max heißt und Harry immer neue Mädchen bringt. Er ist nicht immer hier. Ich habe noch nie mit ihm gesprochen.«
Annie nahm an, dass Masurik oder Max Lambert eingeschaltet
Weitere Kostenlose Bücher