Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
aufgab, ich hätte mich vielleicht etwas zu aggressiv an sie rangemacht und sie hätte sich nur verteidigt.«
Das überraschte Annie nicht. Sie gab es nur sehr ungern zu, besonders nachdem sie nun mit McLaren gesprochen hatte und ihn mochte, aber das wäre auch bei ihr einer der ersten Gedanken gewesen. Ob es daran lag, dass sie eine Frau war oder eine Polizeibeamtin, wusste sie nicht, vielleicht sogar an beidem. Der Grund konnte aber auch sein, dass sie selbst vergewaltigt worden war. »Hat die Polizei angedeutet, Sie hätten die Frau bedrängt, sie vergewaltigen wollen?«
»Nicht ausdrücklich, aber die Botschaft kam klar und deutlich bei mir an. Ich musste nur deshalb nicht ins Gefängnis, weil es gleichzeitig zwei ungeklärte Todesfälle gab und die Frau sich anscheinend aus dem Staub gemacht hatte.«
»Haben Sie die Frau jemals nackt gesehen?«
»Was für eine Frage!«
»Das kann sehr wichtig sein.«
»Aber die Antwort ist nein. Nicht dass ich wüsste. Wie gesagt, ich weiß nicht, was an jenem Tag im Wald passierte, aber bis zu dem Punkt ist mein Gedächtnis so klar, wie es nur geht. Ich meine, sie wollte nichts davon wissen. Ich gab ihr einen einzigen Kuss, auf der Bank beim Denkmal von Cook, das war alles.«
Also konnte er nichts von Kirstens Brustverletzungen gewusst haben, dachte Annie, es sei denn, er war wirklich mit ihr im Wald gewesen und hatte ihr das Oberteil ausgezogen. Der Traum mochte ein Hinweis darauf sein, dass er die Narben gesehen hatte und sein Unterbewusstsein sich damit beschäftigte. Irgendetwas musste er bei Kirsten versucht haben, oder es lief bis zu einem gewissen Punkt in gegenseitigem Einvernehmen, bis Kirsten sich zu wehren begann und Panik bekam. Damals wusste sie bereits, dass sie keinen Sex mehr würde haben können, was war da also gelaufen?
Falls McLaren begriffen hatte, wer sie war - was gut möglich war, selbst wenn sie ihr Aussehen verändert hatte -, falls er also ihre Tarnung durchschaut hatte und eine Bedrohung für ihren Rachefeldzug darstellte, war es doch denkbar, dass sie ihn kaltblütig in den Wald gelockt hatte, um ihn loszuwerden? Dass sie mit ihm herumgeknutscht und dann versucht hatte, ihn zu töten, als er entsprechend abgelenkt war? Mit was für einem Menschen hatte Annie es hier zu tun? Immer wenn sie glaubte, ein gewisses Gefühl für diese Kirsten zu entwickeln, entzog sich die verdammte Frau wieder ihrem Verständnis und Mitgefühl.
»Was halten Sie denn von der Theorie der Polizei?«, fragte Annie.
»Ich sehe das nicht«, sagte McLaren. »Ich meine, es kommt Ihnen vielleicht unglaubhaft vor, aber ich bin einfach nicht der Typ dafür. Ich glaube, ich habe es schlichtweg nicht in mir. Sie denken vielleicht, jeder Mann hat es, ich weiß es nicht. Ich nehme an, Sie haben in Ihrem Beruf schon alles erlebt, und Sie sind eine Frau, aber ich sehe das anders. Ich glaube ganz ehrlich nicht, dass ich jemals eine Frau angreifen oder vergewaltigen könnte.«
Obwohl Annie selbst Opfer einer Vergewaltigung gewesen war, hielt sie nicht jeden Mann für einen potentiellen Vergewaltiger. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Keith«, sagte sie. »Sie waren mir eine große Hilfe. Und wenn es irgendein Trost für Sie ist, ich glaube auch nicht, dass Sie so ein Mensch sind.«
»Gern geschehen«, sagte Keith. »Falls Sie mal in Sydney sind, kommen Sie doch vorbei! Ich lade Sie zu den besten Meeresfrüchten ein, die Sie je gegessen haben.«
Annie lachte. »Mach ich«, sagte sie. »Alles Gute.«
Als sie auflegte, drückte sie die lauwarme Teetasse auf ihre Haut und starrte aufs Meer. Sydney. Das wäre mal was! Bilder von der Harbour Bridge und der Oper, die sie vom Fernsehen kannte, standen ihr vor Augen. Der Nebel verdunstete über dem Meer, stieg in dünnen Schwaden hoch und löste sich auf, die Sonne schien heller, man konnte nicht mehr hineinsehen, und ein grüner Fischtrawler näherte sich der Küste. Wenige Minuten später klingelte Annies Telefon erneut.
Kevin Templeton hatte eine Zweizimmerwohnung in einer ehemaligen Schule in der Nähe der Dorfwiese, direkt gegenüber vom Fluss, nicht weit entfernt von dem Haus, in dem die Profilerin Jenny Füller immer wohnte, wenn sie in der Stadt war. Aus seinem Zimmer im dritten Stock führte eine Tür auf einen kleinen Balkon, der einen herrlichen Blick nach Westen auf die terrassierten Gärten bis hoch zu der majestätischen Burgruine hoch oben
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