Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
fügte Naylor hinzu, »es gibt solche und solche.«
»Ach, Tommy, jetzt machen Sie nicht einen auf lebensüberdrüssigen Zyniker. Das passt vielleicht zu Ihrem zerknitterten Auftreten, aber uns hilft es nicht weiter. Sie haben die Frau gesehen, den Rollstuhl, den Halo-Fixateur und so weiter, und Sie haben gehört, was der Doc gesagt hat. Sie war wohl völlig bewegungsunfähig. Konnte wahrscheinlich auch nicht sprechen. Wie sollte sie für irgendwen eine Bedrohung darstellen?«
»Ich denke mal, sie hat nicht ihr Leben lang im Rollstuhl gesessen«, warf Ginger von der Rückbank ein.
»Guter Einwand«, sagte Annie und schaute nach hinten. »Sehr guter Punkt. Und sobald wir wissen, wer sie ist, nehmen wir uns ihre Vergangenheit vor. Was halten Sie von dem Mann, der sie gefunden hat, Tommy?«
»Wenn der das gewesen sein soll, ist er ein verdammt guter Schauspieler. Ich glaube, er sagt die Wahrheit.« Tommy Naylor war ein altgedienter, nüchterner Kollege von Anfang fünfzig, der kein Interesse am schlüpfrigen Terrain von Ehrgeiz und Beförderung hatte. In der kurzen Zeit, seit sie miteinander arbeiteten, hatte Annie gelernt, seine Meinung zu respektieren. Sie wusste nicht viel über Naylor und sein Privatleben, man erzählte sich nur, seine Frau habe Krebs und liege im Sterben. Naylor war schweigsam und zurückhaltend, ein Mann weniger Worte, und Annie wusste nicht, was er von ihr hielt, aber er erledigte seine Aufgaben ohne zu fragen und zeigte Initiative, wenn es nötig war. Außerdem vertraute sie seinem Urteil. Mehr konnte sie gar nicht verlangen.
»Also ist jemand mit ihr spazieren gegangen, hat ihr die Kehle durchgeschnitten und sie einfach verbluten lassen?«, fragte Annie.
»Sieht so aus«, erwiderte Naylor.
Annie dachte eine Weile nach, dann sagte sie: »Gut, Ginger, Sie kümmern sich darum, dass ein Soko-Raum eingerichtet wird. Wir brauchen hier draußen einen Tatortbus. Und Tommy, wir gehen zusammen nach Mapston Hall und schauen mal, ob wir nicht herausfinden können, woher sie kam. Wenn wir Glück haben, gibt's da auch eine Tasse Tee.«
Während Superintendent Gervaise sich zur Dienststelle begab, um die Mordermittlung in Gang zu setzen und sich um die Presse zu kümmern, gingen die verschiedenen Spezialisten ihren Aufgaben nach. DS Hatchley organisierte eine Befragung der Pubs im Stadtzentrum, und Banks beschloss, Joseph Randall einen Besuch abzustatten, dem Inhaber des Lederwarenladens, der Hayley Daniels' Leiche gefunden hatte.
Hyacinth Walk war eine unauffällige Nebenstraße der King Street mit heruntergekommenen Reihen roter Backsteinhäuser aus den Vorkriegsjahren. Ungefähr auf halber Höhe des Hügels ging zwischen Marktplatz und der moderneren Siedlung Leaview Estate der Hyacinth Walk ab. Von hier waren es etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten bis ins Labyrinth. Das Haus von Joseph Randall war schlicht möbliert und sauber, die Wände waren korallenrot tapeziert. Ein großer Fernseher, der im Moment nicht lief, bildete den Mittelpunkt des Wohnzimmers.
Randall wirkte noch immer mitgenommen von seinem Erlebnis, was gut verständlich war, wie Banks fand. Man stolperte schließlich nicht jeden Tag über die nur teilweise bekleidete Leiche eines jungen Mädchens. Während in anderen Häusern jetzt wohl der Sonntagsbraten gegessen wurde, schien Randall nichts auf dem Herd zu haben. Im Hintergrund lief BBC Radio 2: Parkinson interviewte irgendeinen berühmten Phrasendrescher. Banks konnte nicht genau verstehen, wer es war und was gesprochen wurde.
»Nehmen Sie doch Platz!«, sagte Randall und schob seine Brille mit den schweren Gläsern auf seine lange, dünne Nase.
Seine grauen Augen waren blutunterlaufen. Das spärliche graue Haar war nicht gekämmt, klebte an manchen Stellen am Schädel und stand an anderen ab. Mit seiner schäbigen beigen Strickjacke, die er sich um die Schultern gelegt hatte, sah er weit älter als fünfundfünfzig aus. Aber vielleicht lag das auch an der traumatischen Erfahrung vom Vormittag.
Banks setzte sich in einen braunen Ledersessel, der bequemer war, als er gedacht hatte. Ein Spiegel mit Goldrahmen hing schräg über dem Kamin, Banks sah sein eigenes Spiegelbild. Es verwirrte ihn. Er versuchte, es so gut wie möglich zu ignorieren, während er mit Randall sprach.
»Ich möchte nur ein paar Dinge klären«, begann er. »Sie sagten, Sie hätten das Mädchen entdeckt, als Sie ins Lager gingen, um nach Stoffmustern
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