Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
Jenny ist das, was ich nicht getan habe. Verpasste Gelegenheiten, nichts, was ich übereilt getan und dann bereut hätte.«
»Hm.«
»Wir kennen uns einfach schon sehr lange, mehr nicht«, sagte Banks. »Eigentlich schon so lange, wie ich hier im Norden bin. Ich habe Jenny bei meinem allerersten Fall kennengelernt. Vielleicht hätte es anders laufen können, ist es aber nicht, und jetzt ist es zu spät. Ist nie was gewesen.«
Sie tranken aus und gingen nach draußen zum Briggate. Das schöne Wetter lockte die Menschen ins Stadtzentrum, die Fußgängerzone war rammelvoll, die Geschäfte hatten gut zu tun: Marks and Spencer, Harvey Nichols, Debenhams, Currys Digital. Die vierzehnjährigen Mütter führten ihre Solariumbräune spazieren, schoben mit einer Hand den Kinderwagen, in der anderen eine Zigarette. So wirkte es jedenfalls. Nachdem sich Banks an der Headrow von Blackstone verabschiedet und versprochen hatte, sich bald mal auf ein Curry und ein paar Bier zu treffen, ging er zu Muji und kaufte eine Handvoll der kleinen, in Pappe gebundenen Notizblöcke, die ihm so gut gefielen. Dann ging er zu Borders und schaute nach, ob es dort White Heat im Angebot gab. Ihm hatte der erste Band von Dominic Sandbrooks Geschichte der fünfziger Jahre in Großbritannien gut gefallen -Never Had it So Good - und er freute sich schon, den zweiten zu lesen, aus seiner eigenen Zeit, den Sechzigern, wenn er mit der Geschichte Europas fertig wäre. Anschließend wollte er sich noch bei HMV nach den neuesten CDs umschauen.
Annie war nicht gerade stolz auf ihren Auftritt in Millgarth, als sie etwa anderthalb Stunden später nach Whitby fuhr. Es war ein herrlicher Tag, das Meer lag in all seiner Weite vor ihr, die Grün- und Blautöne leuchteten stärker, als sie es je gesehen hatte. Die roten Dächer der Häuser zogen sich den Hang hinauf, die Hafenmauern erstreckten sich ins Wasser wie die Enden einer Pinzette. Die ganze Szenerie, an beiden Seiten von hohen Klippen gerahmt, wirkte eher wie ein abstraktes Landschaftsgemälde denn wie ein wirklicher Ort.
Von oben konnte Annie gut die beiden durch die Flussmündung getrennten, charakteristischen Hälften der Stadt erkennen: East Cliff mit seiner zerstörten Abtei und der St. Mary's Church glich einem umgekippten Boot, auf der anderen Seite lag West Cliff mit den langen Reihen viktorianischer Pensionen und Hotels, dem Denkmal von Captain Cook und dem gewaltigen Kieferknochen eines Wals. Obgleich Annie den Ausblick genoss und ihr Künstlerauge ihn auf Leinwand übersetzte, war sie in Gedanken mit Banks, Eric und vor allem ihrem eigenen unberechenbaren Verhalten beschäftigt. She's Lost Control. Gab es nicht mal ein Lied, das so hieß? Banks würde es wissen. Banks. Verdammt noch mal. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Dass eine kurze Nummer mit ihm alles wiedergutmachen würde?
Je länger sie über Samstagabend nachdachte, desto überzeugter war sie, dass es nicht der Altersunterschied war, der sie am meisten störte. Wenn es andersherum gewesen wäre, wenn sie eine zweiundzwanzigjährige Frau wäre, hätten es die meisten Männer von vierzig und älter schließlich völlig normal gefunden, mit ihr zu schlafen - es gab mit Sicherheit keinen, der eine Keira Knightley oder Scarlett Johansson von der Bettkante stoßen würde. Außerdem kannte Annie viele Frauen in den Vierzigern, die ihr gegenüber von ihren jugendlichen Eroberungen geprahlt hatten. Sie sollte stolz darauf sein, Eric an Land gezogen zu haben, statt sich so billig und schmutzig zu fühlen. Doch Annie wusste, dass sie diese Empfindungen hatte, weil sie eigentlich anders gestrickt war.
Vielleicht ärgerte sie sich so, weil sie immer überzeugt gewesen war, nur mit Männern zu schlafen, mit denen sie sich am nächsten Morgen auch unterhalten konnte. Dass sie oft älter und reifer waren als Annie, so wie Banks, schien dabei unwichtig zu sein. Sie hatten mehr Erfahrung, mehr zu erzählen. Die jüngeren waren immer so auf sich selbst bedacht, auf ihr Image. Das hatte Annie schon so empfunden, als sie noch jünger war, hatte stets ältere Männer bevorzugt und Jungs in ihrem Alter für oberflächlich gehalten. In ihren Augen fehlte es ihnen an allem, außer an sexueller Energie und Frequenz. Manchen Frauen mochte das reichen. Vielleicht sollte das auch Annie reichen, doch das tat es nicht, sonst würde sie sich nicht so mies fühlen.
Was sie am meisten aufregte und was sie einfach nicht
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