Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
begreifen konnte, war, dass sie gar nicht gewusst hatte, was sie da tat. Sie hatte wirklich die Kontrolle verloren. Aus irgendeinem Grund war sie so betrunken gewesen, dass sie sich geschmeichelt gefühlt hatte, weil ein knackiger junger Kerl etwas von ihr wollte, wo sie selbst gerade vierzig geworden war und sich langsam alt fühlte. Nach Annies Erfahrung war es nie gut, mit einem dicken Kopf und einem Fremden neben sich aufzuwachen, aber in diesem Fall war es noch schlimmer, weil er jung genug gewesen war, um ihr Sohn zu sein.
Dabei konnte Annie noch nicht mal behaupten, gezwungen, überwältigt oder sonst was worden zu sein. Es war kein Rohypnol oder GHB im Spiel gewesen, nur Alkohol und ein paar Joints, soweit Annie wusste, und am schlimmsten war, dass sie, betrunken, wie sie gewesen war, nur zu bereitwillig bei allem mitgemacht hatte. An den genauen Ablauf des Sex konnte sie sich nicht erinnern, nur an hektisches Gefummel, lautes Stöhnen und an das Gefühl, dass alles sehr schnell vorbei gewesen war. Und ihre anfängliche Erregung und Begeisterung waren ihr noch bewusst. Doch sie nahm an, dass es für Eric letztendlich ebenso unbefriedigend gewesen war wie für sie.
Und dann dieser Zwischenfall mit Banks am Vorabend. Auch da: Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Jetzt war alles anders, sie würde ihm nie wieder unter die Augen treten können. Und sie hatte sowohl Banks als auch Winsome in eine unangenehme Situation gebracht, als sie sich in ihrem Zustand ans Steuer gesetzt hatte. Annie hätte den Führerschein verlieren, vom Dienst suspendiert werden können. Aber das schien noch ihr kleinstes Problem zu sein.
Die Farben des Meeres änderten sich, als sie die gewundene Straße hinunterfuhr. Bald war sie auf Höhe der Häuser, hielt vor den Ampeln in den Straßen des Zentrums, wo das normale Leben weiterging. Vor der Dienststelle hatte sich eine Horde von Journalisten eingefunden und hielt jedem, der kam oder ging, Mikros und Diktaphone ins Gesicht. Mit Hilfe von Absperrkräften der uniformierten Kollegen schlug sich Annie durch und ging ins Großraumbüro, wo sie das übliche kontrollierte Chaos erwartete. Kaum war sie eingetreten, kam Ginger auf sie zu. »Alles in Ordnung, Ma'am? Sie sehen ein bisschen krank aus.«
»Mir geht's gut«, grummelte Annie. »Diese dämlichen Journalisten gehen mir auf den Geist, mehr nicht. Gibt's was Neues?«
»Habe eine Nachricht für Sie von einem ehemaligen DI namens Les Ferris«, sagte Ginger.
»Und wer ist das bitte im Klartext?«
»Ein Kollege von hier. Hat früher bei uns gearbeitet, aber lebt jetzt unten in Scarborough. Offiziell im Ruhestand, aber er hat noch ein Postfach und ist zivil als Analyst angestellt. Ist wohl ziemlich gut.«
»Und?«
»Er sagt nur, er möchte mit Ihnen sprechen, mehr nicht.«
»Bin ich nicht beliebt?«
»Er sagt, es ginge um einen alten Fall, aber er meint, es könnte für die Lucy-Payne-Ermittlung von Bedeutung sein.«
»Gut«, sagte Annie. »Ich versuche später, mich zu verdrücken und ihn dazwischenzuschieben. Ist noch was gewesen, während ich weg war?«
»Nein, Ma'am. Wir haben noch mal mit den Leuten in Mapston Hall gesprochen. Nichts Neues. Wenn jemand wusste, dass Karen Drew Lucy Payne war, dann hat er es gut verheimlicht.«
»Wir müssen eine ganze Mannschaft darauf ansetzen, nach Lecks zu suchen, und noch viel tiefer graben«, sagte Annie. »Wir müssen uns noch mal alle Angestellten aus Julia Fords Kanzlei, von Mapston Hall, im Krankenhaus und beim Sozialdienst ganz genau ansehen. Versuchen Sie mal, ob Sie Unterstützung von den Kollegen in Nottingham bekommen, und teilen Sie den Rest unter unseren besten Analysten auf. Sagen Sie denen, so was nennt man Überstunden.«
»Ja, Chefin«, sagte Ginger.
»Und ich denke, wir müssen auch in andere Richtungen Fragen stellen«, ergänzte Annie und holte die Ordner aus ihrer Aktentasche. »Wir müssen unsere Ermittlungen breiter fächern. Nehmen Sie diese Namensliste und teilen Sie sie zwischen DS Naylor, sich und dem Rest der Mannschaft auf, ja? Das sind alles Personen, denen vor sechs Jahren auf die eine oder andere Weise durch Lucy Payne Leid angetan wurde, die meisten leben in West Yorkshire. Ich habe schon Verbindung zu den Kollegen vor Ort aufgenommen, die unterstützen Sie, so gut sie können. Wir brauchen Aussagen, Alibis, alles. Ich selbst fahre morgen zu Claire Toth. Sie war eng befreundet mit dem
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