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Inspector Banks kehrt heim

Titel: Inspector Banks kehrt heim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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hätten träumen lassen. Er war gelehrt, las ständig, lernte Latein oder Altgriechisch. Ich war auch nicht gerade dumm, weißt du, und ich bilde mir gerne ein, mich in unseren Gesprächen gut behauptet zu haben, obwohl ich nur wenig Latein und noch weniger Griechisch konnte.« Sie schmunzelte, dann wurde sie wieder ernst. »Aber man hatte nie das Gefühl, ihn richtig zu kennen. Man konnte ihm nicht hinter die Stirn sehen. Verstehst du, was ich meine, junger Mann?«
      Ich nickte. »Ich glaube schon, Miss Teresa.«
      »Nun gut«, sagte sie und schaute in die Ferne, wie so oft, wenn sie von Hardy erzählte. »Zumindest war das mein Eindruck. Obgleich er gute zehn Jahre älter war als ich, bilde ich mir gerne ein, zwischendurch auch den Menschen hinter der Fassade gesehen zu haben. Aber da die Dorfbewohner ihn für sonderbar hielten und man nur schwer an ihn herankam, wurde viel über ihn geredet. Ich erinnere mich, dass man sich über ihn und die kleine Sparks aus Puddletown das Maul zerriss. Wie hieß sie noch gleich, Eunice?«
      »Tryphena.«
      »Genau.« Miss Teresa schürzte die Lippen und schien den Namen förmlich auszuspucken. »Tryphena Sparks. Ein unglaublich dummes Gör, fand ich immer. Weißt du, wir waren ungefähr gleich alt, sie und ich. Jedenfalls war von einem Kind die Rede. Völliger Blödsinn natürlich.« Sie schaute aus dem Fenster auf die Grünfläche, wo Kinder so taten, als spielten sie Kricket. Ein Schleier legte sich über ihre Augen. »Wie oft bin ich durch das Gehölz hinter dem Haus gestrichen und sah ihn dort oben am Fenster sitzen, er schrieb und schaute in den Garten. Manchmal winkte er mir zu und kam herunter, um sich mit mir zu unterhalten.« Miss Teresa hielt inne, ihre Augen funkelten, dann sprach sie weiter. »Er ist immer zu Hinrichtungen nach Dorchester gefahren. Wusstest du das?«
      Ich musste gestehen, dass ich das nicht wusste, da meine Bekanntschaft mit Hardy noch frisch war und sich auf seine veröffentlichte Prosa beschränkte, doch kam mir nie in den Sinn, Miss Teresas Worte zu bezweifeln.
      »Hinrichtungen waren damals natürlich noch öffentlich.« Wieder verstummte sie, und ich glaubte zu sehen oder spürte vielmehr, wie sie erschauderte. Dann fand sie, es sei genug für heute, Zeit für Scones und Tee.
      Ich glaube, sie schockierte mich gerne zum Ende ihrer kleinen Erzählungen, als müssten wir mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurückbefördert werden. Ich weiß noch, wie sie mir einmal in die Augen sah und sagte: »Der Arzt hatte ihn ja zur Totgeburt erklärt, weißt du. Wenn die Krankenschwester nicht gewesen wäre, hätte er nicht überlebt. Das kann nicht spurlos an ihm vorübergegangen sein, oder?«
      Wir unterhielten uns über viele Aspekte von Hardy und seinem Schaffen, doch Miss Eunice blieb meistens still, nickte nur hin und wieder. Wenn Miss Teresas Gedächtnis sie im Stich ließ, ihr beispielsweise ein Name nicht mehr einfallen wollte oder sie nicht mehr wusste, welchen Roman Hardy in einem bestimmten Jahr verfasst hatte, half Miss Eunice ihr aus.
      An einen Besuch kann ich mich besonders gut erinnern. Miss Teresa erhob sich viel schneller, als ich ihr zugetraut hätte, und verließ kurz das Zimmer. Ich blieb höflich sitzen, trank meinen Tee und spürte deutlich das Schweigen von Miss Eunice und das Ticken der Großvateruhr draußen im Flur. Als Miss Teresa zurückkam, hatte sie ein altes Buch in der Hand, genauer gesagt zwei Bücher, die sie mir überreichte.
      Es war eine zweibändige Ausgabe von Am grünen Rand der Welt, und zwar die erste Ausgabe von 1874, auch wenn ich das damals noch nicht wusste. Wahrscheinlich war sie ein kleines Vermögen wert. Aber was mich noch mehr fesselte als Helen Patersons Illustrationen, war die kurze Widmung auf dem Vorsatzblatt: Für Tess, in Liebe, Tom.
      Ich wusste, dass Tess die Koseform von Teresa ist, weil ich eine Tante Teresa in Harrogate hatte. Mir kam niemals in den Sinn zu bezweifeln, dass die Tess aus der Widmung die Frau war, die mir gegenübersaß, und Tom niemand anders als Thomas Hardy persönlich.
      »Er hat Sie Tess genannt?«, fragte ich damals. »Vielleicht hatte er Sie vor Augen, als er Tess von den d'Ur-bervilles schrieb!«
      Miss Teresas Gesicht verlor so schnell jegliche Farbe, dass ich um ihre Gesundheit fürchtete. Eine spürbare Kälte breitete sich im Zimmer aus. »Sei nicht töricht, Junge«, flüsterte sie. »Tess Durbeyfield wurde wegen Mordes

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