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Inspector Banks kehrt heim

Titel: Inspector Banks kehrt heim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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meisten waren mir fremd. Ich wusste immer noch nicht, warum ich alljährlich wiederkam. Insbesondere diesmal. Vielleicht hatte Karen recht, und ich suchte wirklich nach Katharsis.
      Oder nach ihr.
      Ich schaute auf die Stelle, wo ich sie im Jahr zuvor erstmals richtig wahrgenommen hatte, als sie mit dem Finger über den Rand ihres Glases fuhr. An ihrem Platz saß nun eine kettenrauchende Brünette mit einem harten Gesicht.
      »Hi, Schnüffler.«
      Al French rutschte auf den leeren Hocker neben mir.
      »Ein Bier?«, bot ich ihm an.
      »Ich bezahle.« Al bestellte zwei Bier. »Hast du diesen seltsamen Todesfall damals je aufklären können?«, wollte er wissen.
      »Was für ein Todesfall?«
      »Weißt du doch. Letztes Jahr. Dieses Schwein, Bud Schiller.«
      »Ach, der.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, da war nichts dran. Er war besoffen, stolperte und fiel ins Wasser.«
      »Ach ja, und anschließend hat er das Piano mit reingezogen. Ich bitte dich, Jack!«
      Ich zuckte mit den Schultern. »Weißt du, Al, manchmal passieren wirklich die sonderbarsten Unfälle. Hab ich dir schon mal von dem Typen erzählt, den man tot auf den U-Bahn-Schienen fand, aber ohne Kopf?«
     
     

* Die alten Damen von Rose Cottage
     
    In unserem Dorf kannte man die beiden Frauen immer nur als »die alten Damen von Rose Cottage«: Miss Eunice mit dem weißen und Miss Teresa mit dem grauen Haar. Keiner wusste, woher sie kamen und wie alt sie genau waren, aber es herrschte die übereinstimmende Meinung, sie hätten sich in Indien, Amerika oder Südafrika kennengelernt und dann beschlossen, in ihre Heimat zurückzukehren, um dort gemeinsam alt zu werden. Im Jahr 1939 nahm man gemeinhin an, sie seien um die neunzig oder gingen darauf zu.
      Man stelle sich also unsere Verwunderung vor, als eines schönen Tages im September ein Polizeiwagen vor Rose Cottage hielt und innerhalb weniger Stunden Gerüchte im Dorf umgingen: Gerüchte von ausgegrabenen Menschenknochen in einem fernen Garten, von Verstümmelung und Zerstückelung, Gerüchte von Mord.
      Unser Dorf heißt Lyndgarth. Es liegt in einem der einsamsten Täler der Yorkshire Dales, ungefähr dreißig Kilometer von Eastvale entfernt, der nächstgrößeren Stadt. Lyndgarth besteht aus nicht viel mehr als einer Ansammlung von Kalksteinhäusern mit Schieferdächern, die sich um eine abschüssige holprige Grünfläche drängen, die mich immer an ein im Wind flatterndes Taschentuch erinnert. Bei uns gibt es die üblichen Einrichtungen: ein Lebensmittelgeschäft, einen Schlachter, einen Zeitungsladen, ein Postamt, eine Schule, eine Kirche, eine Kapelle und drei Kneipen. Dazu wohnen wir in einer der schönsten Landschaften der Welt.
      1939 war ich fünfzehn Jahre alt, und Miss Eunice und Miss Teresa lebten bereits seit zwanzig Jahren im Dorf, dennoch blieben sie uns fremd. Man hört oft, dass man mindestens zwei Jahre in einem Dorf im Norden »überwintern« muss, ehe man dort akzeptiert wird, aber in einem abgelegenen Ort wie Lyndgarth brauchte man damals wohl eher zehn Jahre.
      Was die Ortsansässigen betraf, hatten die beiden Damen also ihre Lehrjahre absolviert und konnten als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft akzeptiert werden, doch legten sie eine gewisse Distanz an den Tag, so dass man nie recht an sie herankam.
      Sie erledigten alle Einkäufe im Dorf, waren immer höflich zu den Menschen, die sie auf der Straße trafen, gingen regelmäßig zur Messe in St. Oswald und halfen bei  Wohltätigkeitsveranstaltungen, nie setzten sie einen Fuß in die Kneipe. Und dennoch spürte man diese Distanz, dieses Gefühl, dass sie nicht richtig dazugehörten oder dazugehören wollten.
      Trotz der politischen Spannungen war der Sommer 1939 ungewöhnlich schön gewesen. Oder sind das verklärte Kindheitserinnerungen? Unser Tal kann selbst im August eine der trübsten und verlassensten Landschaften der Erde sein, dennoch habe ich die Sommertage meiner Kindheit als sonnig mit blauem Himmel in Erinnerung. 1939 brachte jeder Tag eine neue Symphonie der Farben, die wie auf einer Malerpalette unablässig neu gemischt wurden: goldene Butterblumen, rosafarbener Klee, violetter Storchschnabel. Während auf dem Kontinent zäh verhandelt wurde, Ribbentrop und Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterzeichneten und von Zwangsrekrutierung und Rationierung die Rede war, änderte sich in Lyndgarth nur sehr wenig.
      Der Sommer in den Yorkshire

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