Inspector Barnaby 01 Die Rätsel von Badgers Drift 02 Requiem für einen Mörder
Nichts. Er brabbelte seinen Text herunter, wobei er ununterbrochen über Kittys Schultern hinweg jene Gestalt anstarrte, die, ganz in Grau gehüllt, im Dunkeln wartete. Als Nicholas gestorben und ohne jedes Zeremoniell in das Armengrab (eine hinter dem Kamin versteckte Matratze) geworfen worden war, blieb er dort zunächst einige Momente liegen und kroch dann in die Kulissen zurück. Er begab sich zu dem Stuhl neben dem Requisitentisch, ließ sich darauffallen und lehnte den Kopf an die Wand.
Er hatte sofortige Aufmerksamkeit und Mitgefühl erwartet und war daher überrascht, als keiner Notiz von ihm nahm; dann aber wurde ihm bewußt, daß sie ja gar nicht wissen konnten, was da unter dem verhangenen Tisch geschehen war. Und dann spürte er, daß auch seine andere Hand, oder besser gesagt, sein Daumen, wie Höllenfeuer brannte. Er hielt ihn hoch, aber das Licht war so dämmerig, daß er nur den Umriß erkennen konnte. Er lief nach unten und kam an Dierdre vorbei, die gerade nach oben lief, »Vorsicht« schrie und dabei einen Kessel mit dampfendem Wasser vor Nicholas in Sicherheit brachte.
In dem hellen Licht der Herrengarderobe entdeckte er, daß er sich einen großen Splitter in die eine Seite des Daumennagels getrieben hatte. Das umliegende Fleisch sah bereits übel entzündet aus. Er hielt den Daumen einen Moment lang unter heißes Wasser und sah sich dann nach einer Pinzette um. Gelegentlich hatte ein Darsteller so etwas bei sich, um falsche Wimpern, Haarteile oder Augenbrauen anzulegen. Aber er hatte keinen Erfolg. Er versuchte es an der nächsten Tür, klopfte aber vorher an.
»Oh...«, entfuhr es Rosa. »Du armes Lämmchen. Ich habe eine Pinzette. Warte mal.« Sie kramte in ihrer Kiste. »Hast du irgend etwas draufgetan?«
»Nein, ich hab’ den Daumen bloß unter Wasser gehalten.«
»Da ist sie ja.« Rosa hielt eine Pinzette hoch, die mit Schminkfarbe beschmiert war. »Sehen wir uns das doch mal näher an.«
Nicholas streckte ihr seinen Daumen entgegen, während er dem chirurgischen Eingriff mit einiger Unruhe entgegensah. »Sollten wir sie vorher nicht sterilisieren oder so was?«
»Gütiger Himmel, Nicholas. Wenn du Schauspieler werden willst, mußt du lernen, so etwas wegzustecken.«
Nicholas, der partout nicht einsah, warum die Bereitschaft, eine Blutvergiftung davonzutragen, eine notwendige Qualifikation für einen jungen Schauspieler wäre, sträubte sich gegen diese grobe Behauptung.
»Da.« Rosa zog mit überraschender Sanftheit den Splitter heraus, wühlte dann in ihrer Handtasche herum, holte ein schmuddeliges, rosafarbenes Pflaster heraus und schälte die durchsichtige Schutzschicht ab. »Sag mal, wie ist dir denn das überhaupt zugestoßen?« Nicholas erzählte es ihr. »Ohhh... du übertreibst aber.«
»Nein. Er wollte wirklich auf meine Halsschlagader losgehen.« Aber schon während er die Worte hervorbrachte, wurde sich Nicholas bewußt, daß sich diese Überzeugung bereits abschwächte. Die gemütliche, völlig normale Atmosphäre in der Garderobe und die Tatsache, daß niemand von den Kulissen aus etwas gesehen hatte, riefen das Gefühl in ihm wach, seine Erinnerung entspräche nicht ganz der Wahrheit. Aber da gab es etwas, das absolut wahr und sehr real gewesen war. Nicholas sagte: »Und Kitty hat er geschüttelt, als wollte er ihr das Lebenslicht ausblasen.«
»Ach, wirklich?« Rosa lächelte und legte das Pflaster extra sanft um den Daumen ihres Kollegen. »Was für ein ungezogener Junge.«
Nicholas setzte sehr richtig voraus, daß dieser Ausruf eher Esslyn galt als ihm, obwohl er Nicholas unter diesen Umständen reichlich untertrieben zu sein schien. »Ich nehme an, er ist dahintergekommen«, fuhr Rosa mit sanfter Stimme fort, »daß sie eine Affäre hat.«
»Verdammt noch mal! Woher weißt du das denn?«
»Das weiß doch jeder, mein Liebling.«
Nicholas schwamm in Schuldgefühlen, als er dasaß und seine pochende Hand betrachtete. Es war alles seine Schuld. Hätte er Avery und Tim nichts gesagt, dann wäre es nie herausgekommen. Soviel zu Averys Versprechen. Und nach allem, was er wußte, war Tim ebenfalls eine Plaudertasche. Da war einer so schlimm wie der andere. »Diese zwei alten Gerüchteköche.«
»Wie bitte?«
»Tim und Avery.«
»Also wirklich, Liebling«, fuhr Rosa fort, »wenn du derart über Schwule denkst, dann hast du dir den falschen Beruf ausgesucht. Schließlich gibt es in jeder
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