Inspector Barnaby 01 Die Rätsel von Badgers Drift 02 Requiem für einen Mörder
war (sechsundzwanzig) als Rosa, und auch nicht, daß sie es als Jüngere sehr viel leichter auf der Bühne haben würde. Dennoch... Rosa lehnte sich wieder ein wenig zurück und wartete voller Unbehagen.
»Du stehst am Fenster«, rief Harold. »Du öffnest es und redest, während du nach draußen siehst. Ab >Mein Liebster, verstehst du denn nicht.. .< Seite zwei, Zeile fünf.«
Dann bewegte sich Cully, aber nicht, wie Rosa es erwartet hatte, zu dem Fenster hinten an der Bühne (das immer noch von Amadeus dastand), sondern direkt auf die Bühnenrampe zu, wo sie sich an eine imaginäre Wand lehnte und ihrem hübschen Gesicht den Ausdruck ängstlicher Melancholie gab. Sie fing mit einer vollen, klaren Stimme zu sprechen an, die so intensiv wie ein Schmerz war und nicht diesen melodischen Tschechow-Ton hatte, den man bei der CADS für angemessen hielt. Ihre Wut floß mächtig und bitter in das Auditorium. Rosa war erschüttert. Sie fror bis ins Mark und konnte deutlich spüren, wie ihr Herz von seinem Platz sprang und gegen ihre Rippen schlug.
Aber Cully war noch nicht ganz in ihrem Monolog, als zwei Männer in der Schwingtür unter dem Ausgangsschild erschienen und verhalten den Gang hinunterkamen. Ihre Schritte waren so gleichmäßig (weder schnell noch langsam), und der jüngere Mann paßte sich dem Verhalten des älteren derart genau an, daß in ihrem plötzlichen Erscheinen etwas beinahe Komisches lag. Der Auftritt dieses Paares hätte gut in eine Musikkomödie gepaßt. Allerdings nur, bis man ihnen in die Gesichter sah.
Cully zögerte, las noch eine Zeile, hielt dann inne und sagte: »Hallo, Dad.«
»Also wirklich, Tom...« Harold stand auf. »Ausgerechnet jetzt. Wir haben einen Vorsprechtermin. Ich hoffe, es ist wichtig.«
»Sogar sehr. Wo wollen Sie hin?« Tim war von seinem Sitz aufgestanden.
»Ich will Wein holen.«
»Würden Sie sich bitte wieder setzen. Was ich zu sagen habe, wird nicht lange dauern.« Tim setzte sich. »Könnten alle, die auf der Bühne oder in den Kulissen sind, nach vorn kommen. Dann muß ich mir nicht den Hals verrenken.«
Nicholas, Dierdre, Joyce und Cully kletterten von der Bühne herunter. Donald Everard folgte ihnen und glitt auf den Stuhl neben seinem Zwillingsbruder. Der junge Polizeibeamte in dem Regenmantel setzte sich auf eine Stufe der kleinen Treppe, die zur Bühne führte, und Barnaby ging bis zum Durchgang am Ende der Reihe A, drehte sich um und sah sie alle an. Sogar Harold schwieg, wenn auch nicht für lange, und Nicholas, so unschuldig er auch sein mochte, dachte: Das war’s. Das Gefühl der Angst war so ausgeprägt, daß ihm beinah übel davon wurde.
Barnaby begann: »Ich halte es nur für angemessen, Sie über den derzeitigen Stand der Ermittlungen im Falle Carmichael zu informieren.« Was für ein Hohn, dachte sich Boris. Als würde die Polizei jemals die Verdächtigen auf dem laufenden halten. Tom wurde etwas lauter. »Und falls Sie es mir gestatten, möchte ich gern einen Moment über den Charakter des Ermordeten sprechen. Ich war immer schon der Meinung, daß die genaue Untersuchung der Persönlichkeit des Opfers in einem Fall wie diesem der erste Schritt sein muß. Abgesehen von rein zufälligen, sozusagen unpersönlichen Morden, wird ein Mann oder eine Frau gewöhnlich für etwas umgebracht, was die jeweilige Person gesagt oder getan hat oder wovon der Mörder glaubt, diese Person hätte es gesagt oder getan. Mit anderen Worten, aufgrund ihrer Persönlichkeit oder ihres Charakters.«
»Nun, ich hoffe, wir werden nicht allzuviel Zeit dafür vergeuden müssen«, unterbrach ihn Harold. »Wir wissen doch alle, was für eine Sorte Mensch Esslyn war.«
»Tatsächlich? Ich kenne bisher nur die verbreitete Auffassung, der ich selbst ja auch zugestimmt habe. Warum auch nicht? Bisher hatte ich keinen Grund, mich eingehender damit zu beschäftigen. Oh ja, wir alle haben Esslyn gekannt. Er war enorm überspannt und eitel, und er hatte einen starken Willen; er war egoistisch und ein Frauenheld. Aber als ich versucht habe, mehr über seinen Charakter in Erfahrung zu bringen, habe ich herausgefunden, daß da nichts war - kein Charakter, keine Persönlichkeit. Natürlich gab es das äußere Erscheinungsbild. Bestimmte narzißtische Gesten und die Züge eines Casanovas, aber dahinter... nichts. Nun, woran könnte das wohl liegen?«
»Er war eben oberflächlich. Manche Menschen sind einfach so«, entgegnete
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