Inspector Barnaby 05 - Treu bis in den Tod
hatte. Das war aber gar nicht so einfach wie man sich das vorstellte. Denn fast immer wandten die Täter zuviel Kraft an, und das führte zu unnatürlich gleichmäßigen Abdrücken.
Barnaby schloß die Augen und versetzte sich in das Wohnzimmer von Nightingales um elf Uhr am Montagabend vor einer Woche. So etwas machte er oft, und er konnte es ziemlich gut. Und da er eine lebhafte, aber nicht sonderlich ausschweifende Phantasie hatte, kamen bei ihm durchaus realistische Szenarios heraus.
Da war das Zimmer, unordentlich und stickig, die Vorhänge zugezogen. Und da kam Alan - Barnaby hörte die Tür zuschlagen - direkt von der Lösegeldübergabe. Was hatten sie ihm erzählt? Wahrscheinlich die übliche Geschichte. Daß sie auf ihn warten würde, wenn er nach Hause käme. In dem Fall würde er durch das leere Haus laufen, treppauf, treppab, durch alle Zimmer, und ihren Namen rufen. Simone! Simone!
Der arme Kerl.
Aber wenn Nightingales nun doch nicht leer gewesen war. Vielleicht war der Mörder bereits in situ. Oder war er - oder sie - später heimlich eingestiegen, ohne daß Hollingsworth es bemerkt hatte? Letzteres schien Barnaby reichlich unwahrscheinlich. Wenn es sich um jemand handelte, mit dem der Tote bereit gewesen war, einen Drink zu nehmen, dann hätte es keinen Grund für ein heimliches Eindringen gegeben.
Die Versuchung war groß, eine Verbindung zwischen der Entführung und Hollingsworths Tod zu sehen, so paradox diese auf den ersten Blick auch scheinen mochte. Warum sollte jemand ein Huhn schlachten, das ihm gerade ein nicht unbeträchtliches goldenes Ei gelegt hatte? Und das man durchaus überreden könnte, noch ein paar weitere zu legen.
Ein Grund dafür könnte sein, daß Hollingsworth gefährlich geworden war. Wenn er beispielsweise - anstatt nach der Übergabe sofort nach Hause zu fahren - geblieben war, um zu sehen, wer das Geld abholte? Vielleicht sogar versucht hatte, demjenigen zu folgen. Wenn man ihn entdeckt hatte, wäre sein Leben keinen Heller mehr wert gewesen. Besonders wenn, wie Barnabys Instinkt ihm sagte, Mrs. Hollingsworth bereits tot war.
Seine dicken Finger blätterten weiter in dem Bericht. Er bemerkte, daß sich niemand gewaltsam Einlaß verschafft hatte. Da das Haus rundum abgeschlossen gewesen war, als man die Leiche fand, mußte derjenige entweder einen Schlüssel besessen haben oder reingelassen worden sein.
Gray Patterson hatte einen Schlüssel gehabt. Angeblich weggeschmissen, aber was sollte er auch sonst sagen? Aber selbst wenn es stimmte. Es könnte ja durchaus sein, daß Hollingsworth den Mann, den er betrogen hatte, zu sich ins Haus ließe. Wenn beispielsweise Patterson mit irgendeiner Lügengeschichte erschienen war, daß er Simone irgendwo gesehen hätte - in einem Bus vielleicht oder einem Café? Höchst unwahrscheinlich angesichts der Umstände, aber Alan hätte sicher Hoffnung gehabt. Verzweifelte klammern sich an jeden Strohhalm.
Simone hatte natürlich auch einen Schlüssel. Der war vermutlich in ihrer Handtasche, als sie in den Bus nach Causton stieg, und könnte sich jetzt in den Händen des Täters befinden.
Barnaby krempelte seine feuchten Manschetten hoch. Während dieser Überlegungen, die eigentlich nur eine gewisse Ordnung in seine Gedanken brachten, anstatt zu echten Fortschritten zu führen, war es ein Uhr geworden. Er nahm sein verknittertes beiges Jackett und ging in die Kantine, um vor seiner Verabredung in der Nat West ein kurzes Mittagessen einzunehmen.
Mit Rücksicht auf sein Gewicht wählte der Chief Inspector einen Teller geraspelter Möhren mit Rosinen und Mandelflocken sowie einem Stück Zitrone, dazu zwei Scheiben geräucherte Truthahnbrust. Während er die Zitrone über seinem Salat ausdrückte, dachte er, daß diese glühende Hitze auch etwas Gutes hatte. Sie unterdrückte die Freßsucht.
Craig, der Polizeikater, schlenderte auf ihn zu. Er war ihnen als angeblich ausgezeichneter Mäusejäger von einer Telefonistin aufs Auge gedrückt worden, als diese umzog. Seine eigentliche Bestimmung hatte er jedoch von Anfang an nicht wahrgenommen, sondern hatte sich mehr oder weniger dauerhaft in der Kantine breitgemacht. Obwohl er bei all den schönen Leckerbissen, die gutmütige Menschen ihm dort zusteckten, bereits in der ersten Woche sein Gewicht verdoppelt hatte, gelang es ihm weiterhin erfolgreich, einen Eindruck von Armseligkeit und furchtbarem Hunger zu erwecken, bei dem fast jedem das
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