Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
er ziemlich nutzlos war. Man brauchte nur kurz zu blinzeln, und schon hatte man den Kerl verpasst.
»Dann mal los.« Barnaby saß ungeduldig da, die Hände auf die Knie gestützt, und starrte auf den Bildschirm. Der Film begann. Graublaue Gestalten, mit Tüten beladen oder Einkaufswagen schiebend, schlurften apathisch den Bürgersteig entlang, zwei Mädchen gingen Arm in Arm kichernd vorbei. Ein kleines Kind wurde auf den Schultern seines Vaters getragen. Niemand schien die Kamera zu bemerken. Etwas Dunkles huschte über den Bildschirm.
»Was war das?«, fragte Barnaby.
»Unser Mann«, sagte Troy.
»Scheiße.« Der Chief Inspector ließ die Schultern sinken. »Na schön, spulen Sie zurück und halten sie den Film dort an.«
Sie betrachteten die schlanke Gestalt, die den Lenker des gestohlenen Rads umklammert hielt. Das Rad stand halb auf dem Bürgersteig und halb auf der Straße, als der Mann sich anschickte, auf den Sattel zu springen. Selbst im Standbild und nur von hinten gesehen, war die enorme Muskelkraft unverkennbar.
»Gleiche Größe wie Jackson, gleiche Figur«, sagte Inspector Carter.
»Natürlich ist es die gleiche Größe und die gleiche Figur!« Barnaby stieß verärgert seinen Stuhl zurück. »Das ist der verdammte Kerl!«
»Sollen wir das Bild vergrößern lassen, Chef?«, fragte Sergeant Brierley.
»Gut, aber ich glaube nicht, dass es was bringt.«
»Wenn er doch nur in die andere Richtung geschaut hätte«, sagte DS Griggs und fügte hinzu: »Dieser Schweinehund hat ein teuflisches Glück.«
»Das verbraucht sich früher oder später«, sagte Barnaby. »Bei jedem. Selbst beim Teufel persönlich.«
Louise hatte den Besuch im Krankenhaus gegenüber ihrem Bruder nicht erwähnt. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, es ihm zu verschweigen, doch dann fiel ihr ein, wie wütend er bei ihrem letzten Gespräch über den Überfall auf Ann reagiert hatte, wie er sich in wüsten Beschimpfungen über die Polizei ergangen hatte, weil diese Jax ständig drangsaliere. Nun war der Zeitpunkt, wo sie den Besuch ganz natürlich ins Gespräch hätte einfließen lassen können - sie war seit acht Stunden wieder zu Hause -, längst vorbei.
Auf den Aufruf in den Mittagsnachrichten hatte sie sich jedoch gemeldet. Sie hatte die angegebene Nummer aus einer Telefonzelle vor dem Postamt am Marktplatz angerufen und den Radfahrer beschrieben, ohne zu sagen, dass sie ihn erkannt hatte. Das hatte sie nicht über sich gebracht, noch nicht mal anonym. Und da sie nicht bereit war, einen Schritt weiterzugehen und ihn persönlich zu identifizieren - zum Teil aus Angst um ihre eigene Sicherheit, doch hauptsächlich weil sie Val damit verletzen würde -, wäre ein solcher Hinweis sinnlos gewesen. Im Grunde schämte sie sich dafür. Die Erinnerung an ihren Besuch auf der Intensivstation war frisch und schmerzlich, und Louise war klar: Wenn Ann sterben sollte, dann würde sie sagen, was sie wusste, egal was es kostete. Aber natürlich wünschte sie sich sehnlichst, dass Ann wieder gesund werden würde und der Polizei selber sagen konnte, wer sie überfallen hatte.
Bei diesen Überlegungen erfasste sie der beklemmende Gedanke, ob Jax nicht zum Krankenhaus gehen und dafür sorgen konnte, dass Ann nicht wieder zu sich kam. Nichts schien ihn aufhalten zu können. Kein Wachposten vor der Tür, niemand vom Krankenhauspersonal im Zimmer. Die Schwester hatte gut reden, wenn sie meinte, dass praktisch immer jemand da war. Es war doch nur ein kurzer Augenblick nötig, in dem gerade niemand da war, um die lebenswichtigen Stöpsel herauszureißen, und schon wäre Ann hilflos dem Tod ausgeliefert. Und da die Polizei sie vermutlich für das Opfer eines willkürlichen Überfalls hielt, würde man keine Notwendigkeit sehen, sie zu schützen. Louise schalt sich, sie sei melodramatisch, hatte zu viele Filme gesehen - eine Szene aus dem Paten kam ihr in den Sinn -, doch die Vorstellung wollte nicht verschwinden.
Sie rief im Krankenhaus an. Das hatte sie ohnehin vorgehabt, um sich zu erkundigen, wie die Operation verlaufen war. Doch auch das konnte sie nicht wirklich beruhigen. Die Operation war gut verlaufen. Mrs. Lawrence war noch nicht aus der Narkose erwacht. Besucher waren keine dagewesen.
Ein plötzlicher Luftzug sagte ihr mehr, als jedes Geräusch es hätte tun können, dass die Haustür geöffnet und wieder geschlossen worden war. Ihr Bruder kam mit langsamen Schritten ins
Weitere Kostenlose Bücher