Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
ersten Mal seit sie sich erinnern konnte, hatte sie Angst, ihrem Bruder gegenüberzutreten. Trotzdem bereitete sie, sobald sie ihn herumgehen hörte, eine Kanne Assam-Orange-Pekoe-Tee zu, den er immer gern nach dem Aufstehen trank, und ging damit zu seinem Zimmer.
Sie klopfte, und als sie keine Antwort erhielt, drückte sie sanft die Klinke herunter. Valentine war in seinem Badezimmer. Offenbar war er gerade aus der Dusche gekommen; er stand, ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, vor dem Spiegel und rasierte sich. Die Tür war halb offen. Sie wollte gerade seinen Namen rufen, da beugte er sich herab, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. In dem Augenblick sah sie ein furchtbares Mal, blaurot mit beinahe schwarzen Rändern, auf seinem Nacken.
Louise bewegte sich unbeholfen in den Flur zurück. Alles auf ihrem Tablett klapperte fürchterlich. Der Deckel auf der Teekanne, die zierliche Tasse auf dem Unterteller. Die Oberfläche der Milch geriet in Aufruhr. Behutsam stellte sie das Tablett auf den Boden und richtete sich langsam auf. Sie drückte die zitternden Hände an ihren Körper, atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.
Sie wusste, wer für diese Verunstaltung verantwortlich war, und sagte sich, dass es vielleicht gar nicht so schlimm war, wie es aussah, obwohl sie wusste, dass es noch viel schlimmer war. Ihr kam der Ausdruck »Knutschfleck« in den Sinn, und sie erinnerte sich, wie damals im Schulbus die anderen Mädchen neidisch wurden, wenn man eins dieser unschuldigen, von Leidenschaft sprechenden Male vorweisen konnte.
Doch das hier war etwas anderes. Dieser Knutschfleck zeugte nicht von Liebe. Er zeugte von Hass. War eine Wunde. Sie fragte sich, ob die Stelle zu Anfang geblutet hatte, ob Valentine sie, als er nach Hause kam, mühevoll auswaschen und trocknen musste. Ob sie ihm weh getan hatte, als er sich hinlegte.
Als ihr Bruder eine halbe Stunde später mit dem Teetablett in die Küche kam, brachte sie es kaum über sich, ihn anzusehen. Nicht wegen ihres Streits, der ihr jetzt völlig banal vorkam, sondern aus Angst davor, was sie in seinem Gesicht lesen könnte.
Er bewegte sich ganz ruhig, fast wie im Traum - stellte Tasse und Unterteller in die Spülmaschine, schälte sich eine Orange. Dann setzte er sich an den Tisch, teilte die Frucht und ordnete die Stücke sorgfältig auf einem Teller an, machte jedoch keinerlei Anstalten, sie zu essen.
Louise trat aus Valentines Blickfeld heraus, damit sie ihn ungeniert betrachten konnte. Doch dann merkte sie, dass das völlig überflüssig war, da er ganz offensichtlich vergessen hatte, dass sie da war. Er starrte mit ruhigem, klarem, wissendem Blick aus dem Fenster. Alles an ihm signalisierte Resignation. Seine Hände ruhten traurig auf den Knien, sein Rücken war unter einer unsichtbaren Last gebeugt.
Eine weitere Erinnerung kam ihr in den Sinn, diesmal aus der frühen Kindheit. Sie saß mit ihrem Großvater zusammen und sah ein Fotoalbum durch. Es enthielt auch Postkarten, einige davon aus dem Ersten Weltkrieg. Der Engel von Möns blickte traurig auf einen Soldaten herab, der vor einem Kreuz kniete. Der Soldat blickte tapfer zurück. Er kannte sein Schicksal und bereitete sich darauf vor, ihm mutig zu begegnen. Genauso blickte Valentine.
Ein weiteres Klingeln holte sie schließlich in die Gegenwart zurück. Louise wuchtete sich seufzend hoch und schob die Zeitung beiseite. Eine stämmige Gestalt zeichnete sich verzerrt in der schweren geriffelten Tür ab. Gleich dahinter eine schmalere.
»Mrs. Fainlight?«
»Mrs. Forbes. Valentine Fainlight ist mein Bruder. Wer sind Sie?«
Während er seinen Ausweis herausnahm, betrachtete Barnaby bewundernd die Frau vor ihm. Einen größeren Kontrast zu Ann Lawrence hätte man sich kaum vorstellen können. Ein breiter Mund mit schmalen Lippen, die perfekt zinnoberrot geschminkt waren. Hohe Wangenknochen, leicht schräge hellbraune Augen mit sehr langen Wimpern. Der Teint hatte die Farbe und Beschaffenheit von Schlagsahne. Sie erinnerte ihn an Lauren Bacall aus der Zeit, als Bogie noch Boogie tanzen konnte.
»Dürfen wir reinkommen?«
»Warum?« Trotz der unverblümten Antwort hatte ihre kehlige Stimme etwas Liebenswürdiges.
»Ein paar Fragen über Charlie Leathers. Soweit ich weiß, hat er für Sie gearbeitet.«
»Nur stundenweise.«
Trotzdem trat sie zur Seite, um die beiden Polizisten hereinzulassen. Barnaby ging ins Haus und
Weitere Kostenlose Bücher