Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
freundlichen, anonymen Zuhörer zu reden, besonders am Telefon.
Aber Louise hatte die Nummer noch nicht ganz zu Ende gewählt, da kamen ihr Zweifel. Was sollte sie denn sagen? Mein Bruder ist homosexuell und trifft sich mit einem Mann, den ich für äußerst gewalttätig halte. Was würden sie antworten? Sind Sie sich Ihrer Sache ganz sicher? Nein. Wie gut kennen Sie diesen Mann? Überhaupt nicht. Wie alt ist Ihr Bruder? Dreiundvierzig. Haben Sie versucht, mit ihm darüber zu reden? Einmal. Und das hat einen derartigen Riss in unserer Beziehung erzeugt, dass ich mir geschworen habe, es nie wieder zu versuchen. Glauben Sie, man könnte ihn dazu bringen, selbst mit uns zu reden? Auf gar keinen Fall.
Ende der Geschichte.
Jetzt sah sie auf die Uhr. Es war fast elf. Louise machte sich halbherzig ausgehbereit. Sie hatte keine Lust, sich zu schminken, und steckte ihr Haar nur lose auf dem Kopf fest. Sie zog ein locker sitzendes apricotfarbenes Leinenkleid mit langen Ärmeln an und setzte eine dunkle Brille auf. Eigentlich war es dafür gar nicht sonnig genug, doch durch den wenigen Schlaf hatte sie dunkle Ränder unter den Augen.
Als vorne am alten Pfarrhaus niemand öffnete, ging Louise um das Haus herum und stellte erleichtert fest, dass das Garagentor weit aufstand und das Auto nicht da war.
Zum hinteren Eingang kam man durch einen Wintergarten. Er war sehr groß und sehr alt und enthielt allerlei Krimskrams für den eigentlichen Garten. Gummistiefel, alte Jacken, ein paar Strohhüte und Dutzende von blühenden Pflanzen. Ein uralter Weinstock, dick und kräftig wie ein Männerarm, der direkt im Boden eingepflanzt war, rankte sich mit blassen, brüchigen Zweigen über das Glasdach. Hier herrschte ein starker erdiger Geruch, der sehr angenehm war. Louise verweilte einen Augenblick und genoss die ungeheure, fast bedrückende Stille, die nur durch das Fauchen und Plätschern eines Wasserschlauchs unterbrochen wurde.
Sie stieß die Hintertür auf und rief: »Hallo?« Keine Antwort. Louise fragte sich, ob Ann einfach die Einladung vergessen hatte und ausgegangen war, ohne die Tür abzuschließen. Das tat sie häufiger, was Louise als Stadtmensch unbegreiflich war.
Obwohl Ann dann doch in der Küche war, war offenkundig, dass sie die Einladung tatsächlich vergessen hatte. Als Louise den Kopf durch die Tür steckte, starrte Ann sie ausdruckslos an, als wäre sie jemand völlig Fremdes. Das dauerte zwar nur den Bruchteil einer Sekunde, doch es reichte, um Louise klarzumachen, dass dies nicht die geeignete Person war, der sie ihr Herz ausschütten konnte. In ihrem Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen, war anscheinend die Phantasie mit ihr durchgegangen, und sie hatte eine, wie sie jetzt sah, durchaus angenehme Bekannte mit Qualitäten ausgestattet, die sie nicht besaß. Obwohl sie wusste, wie unfair das Ann gegenüber war, musste Louise überrascht feststellen, dass sie enttäuscht war.
»Louise! Oh, das tut mir Leid. Ich war ganz ... oje ...«
»Das macht doch nichts.«
»Natürlich tut es das. Setz dich doch bitte.«
Louise fand, dass Ann sich mehr aufregte, als es die Situation rechtfertigte. Sie fing nämlich an, hektisch hin und her zu laufen, nahm die Cafetiere, spülte den Satz aus und stellte drei knallgelbe Frühstücksbecher auf den Tisch. Und das alles mit unglücklicher Miene und einer nervösen Entschlossenheit, die noch mehr zu unterstreichen schien, wie wenig willkommen ihr die Unterbrechung war.
»Hör mal«, sagte Louise, die sich immer noch nicht gesetzt hatte, »wir können das auch ein andermal machen.«
»Nein, nein. Bleib doch bitte.«
»Dann lass uns doch einfach Tee trinken?« Sie nahm sich einen Stuhl mit lederner Rückenlehne. »Jeder einen Teebeutel.«
Ann hörte sofort mit den Kaffeevorbereitungen auf und schaltete den elektrischen Kessel ein, der sich sogleich wieder ausschaltete. Sie starrte Louise an. »Ich weiß nicht. Heute Morgen scheint irgendwie alles ...« Sie bekam den Satz nicht zu Ende.
»Lass mich das machen.« Louise stand auf und füllte den Kessel. Im Spülbecken stand schmutziges Geschirr. Sie suchte nach Teebeuteln und machte für beide einen Becher, während sie gleichzeitig Ann im Auge behielt, die jetzt mit bleichem Gesicht am Tisch saß und von Kopf bis Fuß leicht zitterte.
Louise brachte den Tee, setzte sich hin und nahm Anns Hand. Sie war kalt und trocken. Eine ganze Weile saßen sie
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