Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
schweigend da. Zunächst war das ganz entspannend, doch irgendwann wurde Louise dieses anhaltende Schweigen unangenehm.
»Was ist los, Ann? Bist du krank?«
»Nein.«
»Du zitterst.«
»Ja.« Ann begann sich zu widersprechen. »Ich glaub, ich hab Grippe. Eine Erkältung. Irgend so was.«
Was immer es sein mochte, das war es jedenfalls nicht. Louise fragte sich, ob irgendwas in der Familie passiert war. Ein Todesfall vielleicht. Doch dann erinnerte sie sich, dass Ann keine nahen Verwandten mehr hatte. Auch keine Freunde außerhalb des Dorfes. Könnte es eine verspätete Reaktion auf den Mord an Charlie Leathers sein? Eher unwahrscheinlich. Wie alle anderen hatte auch sie den Mann nicht gemocht.
»Möchtest du darüber reden?« Sie ließ ihre Hand los.
Ann hob den Kopf und sah Louise an. Dann starrte sie mit leerem Blick auf die Teebecher, die vertrockneten Toastkrümel, auf eine Vase mit lilafarbener Berberitze. Wollte sie darüber reden? O, Gott, ja. Manchmal hatte sie ein so verzweifeltes Verlangen, darüber zu reden, dass sie fürchtete, sich nicht beherrschen zu können. Dass sie sich wie eine dieser armen umherschweifenden Kreaturen aus der Nervenklinik auf der Straße einen völlig Fremden schnappen und ihm ihr furchtbares Geheimnis aufzwingen würde.
Aber konnte sie Louise vertrauen? Wie gut kannte sie sie wirklich? Ann dachte, dass sie wahrscheinlich bei irgendeinem Passanten besser aufgehoben wäre. Der würde einfach annehmen, dass sie verrückt war, und damit wäre die Sache erledigt.
Folgendes war passiert: An diesem Morgen, genau gesagt kurz vor halb elf, hatte Ann einen zweiten Brief in dem Drahtkorb innen an der Haustür gefunden. Obwohl sie immer noch unter dem Schock litt, den der erste Brief bei ihr ausgelöst hatte, erkannte sie merkwürdigerweise nicht sofort, um was es sich handelte.
Die eigentliche Post war eine halbe Stunde vorher zugestellt worden und hatte sich als so langweilig und harmlos wie immer erwiesen. Das meiste war Reklame, und Ann warf es in den Müll. Lionel, der herumlief und seine Papiere und Gedanken für das bevorstehende Arbeitsessen mit dem Treuhandausschuss der Caritas sammelte, packte den Rest in seine Aktentasche.
Nach dem Frühstück half Ann Lionel in den Mantel, suchte ihm einen leichten Paisleyschal heraus, damit er sich nicht erkältete, und ließ ihn dann weiter über seinen Papieren brüten, während sie sich auf den Weg machte, um zu sehen, wie es Mrs. Leathers und Candy ging. Auf dem Rückweg kaufte sie bei Brian's Emporium frisches Brot und Apfelsinen und besorgte bei der Post Briefmarken. Insgesamt war sie vielleicht eine halbe Stunde unterwegs.
Während dieser Zeit hätte jeder im Dorf sie gesehen haben können, und etliche hatten das vermutlich auch. Die Vorstellung, dass einer von ihnen sie beobachtet und gewartet hatte, bis das Haus leer war und sie in Hettys Gasse eingebogen war oder in der Schlange beim Postamt stand, und dann die anonyme Nachricht in ihren Briefkasten geschoben hatte, war milde gesagt beunruhigend.
Ihr Name stand vollständig in Druckschrift auf dem Briefumschlag. Die Worte im Inneren, die wiederum ausgeschnitten und aufgeklebt waren, sahen anders aus. Diesmal stammten sie alle aus Zeitungsüberschriften. Ann starrte auf die bedrohlichen schwarzen Großbuchstaben. »Diesmal fünf Riesen Mörderin morgen gleicher Ort gleiche Zeit«.
Sie war in die Küche gelaufen, hatte den Brief samt Umschlag in den Herd geworfen und sich dann kerzengerade an den Tisch gesetzt. Wo sollte sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden fünftausend Pfund herkriegen? Selbst wenn sie den gesamten Schmuck ihrer Mutter verkaufte, so teuer er ihr war, könnte sie diese Summe nicht aufbringen.
Natürlich gehörte ihr das Haus. Verglichen mit dem, was das alte Pfarrhaus selbst in seinem schäbigen Zustand wert war, waren ein paar Tausend ein Klacks. Sie hatte keinen Zweifel, dass die Bank ihr gegen diese Sicherheit Geld leihen würde. Aber was dann? Es würden sofort Zinsen anfallen. Diese müsste sie zusammen mit dem Kredit zurückzahlen, was nur möglich war, wenn sie einige ihrer Wertpapiere verkaufte, wodurch das einzige Einkommen, das sie hatte, noch geringer würde. Es reichte ohnehin kaum für zwei Personen. Und wenn noch eine weitere Forderung käme?
An diesem Punkt war sie gerade in ihren verzweifelten Überlegungen angekommen, als Louise auftauchte. Sie war besorgt,
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