Inspector Jury besucht alte Damen
nicht. Er war nicht gerade eine Leseratte. Ich könnte nicht behaupten, daß ich ihn gekannt habe, nein –»
«Aber gut genug, um zumindest seine Lesegewohnheiten zu kennen.» Jury lächelte und legte das Buch wieder auf den Ladentisch.
«Was? Oh, nicht wirklich –» Theos Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen, weil er unter dem Ladentisch in Papieren herumkramte. Dann sah er zu Jury auf und sagte aalglatt: «Das hat mir, glaube ich, Trueblood erzählt. Die Sache ist die …» Ungeachtet seines eigenen Hinweisschildes zündete er sich schon wieder eine schwarze Zigarre an und beugte sich vor, bis er auf Tuchfühlung mit Jury war. «Trueblood kauft nämlich alte Ausgaben auf – meistens Schund, aber man kann nicht erwarten, daß sich ein Antiquitätenhändler mit allem auskennt, nicht wahr? – und folglich ist er mehrere Male in Watermeadows gewesen, um sich die Bücherei anzusehen. Von mir darf ich wohl behaupten, daß ich prinzipiell niemandem auf die Pelle rücke. Lady Summerston hängt sehr an den Büchern ihres Mannes. Trueblood freilich ist ziemlich aufdringlich.» Er ließ etwas Asche zu Boden rieseln und fuhr fort: «Wie auch immer, ich habe mich jedenfalls mit Trueblood unterhalten und ihm gute Ratschläge hinsichtlich einer stockfleckigen Erstausgabe gegeben, und ganz zufällig hat er dabei erwähnt, daß Lean sehr wenig lesen würde, was ein Jammer sei bei der schönen Bibliothek. Die alte Dame kann wegen ihrer Augen nicht viel lesen –» Jury hörte, wie jetzt Erbitterung in seinem Ton mitschwang – «und was die Gattin angeht, so dürften Thriller wohl eher ihren Geschmack treffen. Ich für mein Teil kann dergleichen nicht ausstehen. Aber man muß sich nun mal nach seiner Kundschaft richten.»
«Dann kennen Sie also Mrs. Lean.»
«Nein, nur ihn. Simon.»
«Haben Sie ihn gut gekannt?»
«Nicht sehr gut.» Jetzt stieg er wieder auf seine Leiter, reckte den Hals und sah argwöhnisch in den hinteren Teil des Ladens. «Diese Broadstairs ist eine richtige Landplage. Kauft nie was, macht sich nur Notizen. Man könnte glauben, ich hätte eine Leihbücherei.»
«Soviel ich weiß, war Miss Demorney mit Mr. Lean befreundet. Die kennen Sie doch, oder?»
Ein Elektroschock. Theo erstarrte, und die Knöchel der Hand, die immer noch das Kalbsleder hielt, wurden weiß. «Wenn Sie etwa andeuten wollen, daß Simon und Diane … Vermutlich ist Ihnen Klatsch zu Ohren gekommen …»
«Polizisten hören nun mal auf dergleichen.» Jury lächelte. «Aber ich will gar nichts andeuten. Ich möchte mir nur über gewisse Beziehungen Klarheit verschaffen.» Und daß Theo Simon Lean beim Vornamen nannte, deutete darauf hin, daß hier eine engere Beziehung bestanden hatte, als er zugab – eine, die er verbergen wollte. «Es gibt in Long Piddleton doch eine Schriftstellerin. Joanna Lewes, nicht wahr? Ihre Bücher habe ich aber nicht im Schaufenster gesehen.»
Zu schön, wie Theos Gesicht zunächst zum Fenster schnellte und dann wieder zurück zu Jury. Der besah sich gerade die Porzellanrepliken von Beatrix-Potter-Figuren und die ausgestopften Schmuseversionen von Maurice Sendaks freundlich aussehenden Ungeheuern, die überall auf den Regalen die Eltern zum Kauf verlocken sollten. «Sie haben wirklich ein prachtvolles Geschäft, Mr. Browne. Long Pidd dürfte froh sein, daß es eine Buchhandlung hat. Ein Dienst an der Gemeinschaft gewissermaßen.» Jury sah zu einem Porzellankätzchen auf, und ihm war zum Schreien zumute, aber er lächelte tapfer. Theo Wrenn Browne biß sofort an, und der aschfarbene Ausdruck von Ärger auf seinem Gesicht wandelte sich zu freudiger Überraschung. «Wenn Sie mich fragen, es hat dem Dorf etwas gebracht. Man muß nicht mehr nach Sidbury oder gar Northampton, obwohl ich Northampton vorziehe. Die Geschäfte in Sidbury scheinen sich eher nach dem Geschmack der Zeitungs-Glückwunschkarten-Illustrierten-Leser zu richten. Nach Leuten, die in der Bahnhofsbuchhandlung in Zweierreihen anstehen, um gratis einen Blick in Private Eye zu werfen.» Seine Augen wanderten zu Melrose Plant, der soeben gratis einen Blick in eine ganz andere Lektüre warf.
Nur daß Melroses Gratislektüre weitaus interessanter war als alles, was eine Bahnhofsbuchhandlung zu bieten hatte. Er betrachtete die Matisse-Zeichnung, die florale Einfassung, dann den neuen Einband, die schönen Vorsatzblätter und schüttelte langsam und verwundert den Kopf. Das mußte man dem Mann lassen, Nerven hatte der, das Buch genau vor der
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