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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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das Pförtchen in dem schwarzen Eisengeländer und ging die vier Stufen zu Sadies Wohnung hinunter, wo hinter Rüschenvorhängen mattes, rosafarbenes Licht schimmerte.
    Er verstand nicht, wieso sie nicht zu Hause war; sie wußte doch, daß er spät ankommen würde, und sie hatte gesagt, er würde bis zu ihrer Wohnung nur fünfzehn bis zwanzig Minuten brauchen. Nimm dir ein Taxi, hatte sie gesagt; aber er hatte geantwortet, er käme lieber mit dem Bus oder der U-Bahn. Darüber hatte sie lachen müssen. So nimm dir doch mal im Leben ein Taxi. Aber er hatte das Geld, das sie ihm geschickt hatte, nicht für einen Luxus wie Taxis ausgeben wollen – und dann mußte man immer noch ein Trinkgeld drauflegen, und er wußte nicht wieviel.
    Und jetzt war die Tür verschlossen, doch da das matte Licht durch die Popelinvorhänge schien, nahm er an, daß sie nur eben vor die Tür gegangen war, vielleicht in den Pub. Er zündete sich eine Zigarette aus der Zehnerpackung Players an, die er gekauft hatte, und inhalierte tief. Tommy verheimlichte, daß er rauchte, auch wenn es nicht viel war. Tante Glad hatte ihm strikt untersagt, vor seinem achtzehnten Geburtstag zu rauchen. Wie er seine Lunge ausgerechnet zwischen seinem fünfzehnten und achtzehnten Lebensjahr ruinieren könnte, ging über sein Begriffsvermögen. Deine Lunge, deine Lunge, ewig motzte sie herum. Falls sie ihn mal erwischen würde, wie er Seite an Seite mit Sid arbeitete und ihnen dabei die Zigarette im Mundwinkel baumelte, würde sie ihn wahrscheinlich umbringen.
    Wieder zog er die Armbanduhr mit dem kaputten Band aus der Tasche, schüttelte sie für den Fall, daß sie stehengeblieben war, und zog sie unnützerweise noch einmal auf. Genau vierunddreißig Minuten hatte er nun hier auf den Steinstufen gehockt und bei jedem Klappern von Absätzen prüfend aufgeblickt, doch es klapperte selten. Noch eine gute Stunde, bis die Pubs zumachten; hoffentlich begoß sie sich nicht die Nase und vergaß, daß er zu Besuch kam. Er lehnte den Kopf gegen das Mauerwerk; seine Zigarette glühte auf, als er daran zog. Plötzlich drückte er sie aus, griff nach seinem Koffer und ging die Stufen hoch. Er klopfte oben und wartete, klopfte und wartete. Wohl niemand zu Hause. Nur die Straßenlaternen und Sadies Lampe leuchteten.
    Etwas weiter die Straße runter, wo Narrow Street auf den Limehouse Causeway mündete, sah er ganz oben in einem Haus ein gelbliches Licht aufflackern; das mußte so ein Loft sein, wie ihn sich die Reichen ausbauten. Wahrscheinlich jemand, der schon im Bett gelegen hatte und wieder aufgestanden war. Tommy packte den Koffer und machte sich auf zu dem Speicher. An dem Licht, das sich von Fenster zu Fenster bewegte, als schwebte ein gefangener Mond dahin, konnte er den Menschen dort auf seiner Wanderung verfolgen. Er klopfte. Im Haus wurde es einen Augenblick lang dunkel, bis durch das Buntglasfenster des Oberlichts ein Regenbogenmuster auf die Treppe fiel, wo er stand.
    Sie hatte eine Taschenlampe in der Hand; das war das gespenstische, sich von Fenster zu Fenster bewegende Licht gewesen. Noch nie hatte Tommy eine so gut aussehende Frau gesehen, und ganz gewiß keine, die dabei so alt war wie sie: sie mußte mindestens dreißig sein. Nicht mal Sadie war so hübsch. Die hier war groß und was man gertenschlank nannte und hatte (mehr war in dem dämmrigen Licht nicht zu erkennen) langes Haar, so golden wie Altman’s Ale, Sids Lieblingsgetränk. Rauchig, ja, so konnte man ihre Augen wohl nennen, doch so richtig war die Farbe nicht auszumachen.
    Als sie fragte, was er wollte, runzelte sie ein wenig die Stirn.
    «’tschuldigung, Miss, aber das Haus dahinten – meine Schwester wohnt da im Souterrain.» Er verstummte, denn es war ihm peinlich, daß er sie herausgeklopft hatte.
    Die Ungeduld war ihr anzumerken, denn es schien, als ob nicht mehr aus ihm herauszubekommen sei. «Und?» hakte sie nach.
    In seiner Nervosität begann er, seine Mütze zu zerknautschen, als spielte er Akkordeon. Zusammendrücken, auseinanderziehen, zusammendrücken, auseinanderziehen. «Meine Schwester ist nicht da, und sonst iss – ist – niemand weiter zu Hause. Die Sache ist die, meine Schwester –»
    «Wie heißt denn deine Schwester?» Die Tür wurde ein wenig weiter geöffnet; sie stand mit der Schulter an den Türrahmen gelehnt und wirkte gelangweilt.
    «Sadie, Sadie Diver. Die Sache ist die, sie wollte zu Hause sein, wenn ich ankomme, und ich bin schon über eine halbe Stunde hier, und

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