Inspector Jury besucht alte Damen
Fußboden oben war aus Holz und hatte keine Teppiche. Die Stimmen wurden lauter. Eine Woge von Patriotismus schwappte über, wie man sie selten erlebte. Soweit es an dem Haufen da lag, war England noch lange nicht verloren.
Mrs. Wassermann, Carole-anne und Tommy. Drei Leutchen, die sich wie drei Dutzend anhörten.
Er lag vollkommen entspannt da, balancierte seinen Drink auf den Knien und genoß das Ganze, im Gegensatz zu seiner Nachbarin, in vollen Zügen. Verglichen damit erschien Schlafen langweilig, beinahe ungesund. Immer wieder wollte er aufstehen, nach oben gehen und mitmachen, doch Watermeadows lastete ihm wie ein Alpdruck auf der Seele.
Der Tod von Hannah Lean dürfte Sadie Diver aus der ärmlichen Limehouse-Welt in ein Gartenparadies katapultieren, wo nur eins zwischen ihr und dem Geld stand, mit dem sie die halbe Grafschaft aufkaufen konnte, nämlich Lady Summerston.
Er spürte, wie er sich schon wieder verspannte, trank einen tüchtigen Schluck und versuchte, den Kopf freizubekommen.
Wie gut, daß der Ragtime oben schleppender wurde. Schweigen, und in das Schweigen fiel eine klagende Mundharmonika ein. Füße scharrten über den Fußboden, langsam tanzte man zu «Waltzing Matilda».
Jury schlief.
27
D IE «S TRÄHNCHEN » waren ein Friseursalon unweit der Tottenham Court Road, mit einer Glastür mit riesigem Chromknauf unter einer Markise aus falschem Chrom und einem Ladenschild, von dem Silbersträhnchen flatterten. Jury überlegte, ob es absolut unumgänglich war, aus dem Salon mit vielfarbigem Haar herauszukommen.
«Hallöchen», flötete die junge Frau hinter dem nierenförmigen Chromtresen. Ihr hennarotes Haar züngelte aufwärts, sie hatte bläuliche Strähnchen hineingefärbt, als wollte sie das Fegefeuer karikieren. Sie musterte Jury von Kopf bis Fuß, dann meinte sie, er könne noch vor ihrer nächsten Kundin drankommen, die habe einen Termin um zehn, verspäte sich aber regelmäßig. Ja, sie könnte ihn sogar selber schneiden.
Jury lächelte, sagte, er sei nicht deshalb gekommen, und zeigte seinen Ausweis. «Ich möchte mich nach einer Ihrer Angestellten erkundigen. Sie heißt Sarah oder Sadie Diver.»
«Ach, sollte ich die kennen?» Sie lächelte, als wäre die Sache damit erledigt, und schmiegte ihr herzförmiges Gesicht in die Hand. «Eine Spur Feuerbrand, keine Bange, nur eine Spülung, und Sie würden einfach umwerfend aussehen.»
«Ist das das, was Sie da drauf haben?»
«Das da? Ach, das ist nicht mehr frisch; dürfte schon zwei Wochen alt sein. Nein, Feuerbrand geht mehr ins Bräunliche.»
«Mein Haar ist doch braun.»
«Glanzlichter, mein Lieber, Glanzlichter.» Sie weidete ihn von oben bis unten mit den Augen ab.
«Werd ich mir merken. Trotzdem möchte ich gern den Geschäftsführer sprechen.»
«Also Carlos», erwiderte sie schmollend. Sie zeigte auf einen ziemlich jungen Mann, der vor einem der Spiegel auf einem pflaumenfarbenen Stuhl saß. «Jeannine schneidet ihm gerade die Haare nach.»
«Geben Sie ihm meine Karte.»
Mit einem Seufzer ließ sie sich von ihrem Chromhocker gleiten und machte sich in den hinteren Teil des Salons auf. Überall Chrom, pflaumenfarbene Polster und Spiegel. Mitten im Raum war ein runder Spiegel in den Fußboden eingelassen, umgeben von großen, glänzenden Pflanzen. Jury kam an einer Reihe von Weltraumhauben vorbei; unter zweien davon saßen mittelalte Matronen, auf deren Kopf grüne und rosa Wickler sprossen. Ihre Augen verschlangen die Modezeitsschriften.
Jeannine war eine engelsgesichtige Blodine und sah Jury mit einem himmelblauen Blick von kosmischer Leere an. Die kuriose Frisur im Vierziger-Jahre-Look: Blonde Locken kräuselten sich über ihrer Stirn, das längere Haar wurde von zwei Kämmen zurückgehalten. Sie trug ein weißes Trikot und einen kurzen, pflaumenfarbenen Faltenrock.
Auch Carlos trug Weiß, dazu einen pflaumenfarbenen Pullunder unter einem losen Mantel à la Miami Vice . Sie wirkten eher wie Schlittschuhläufer, nicht wie Friseure; jeden Augenblick konnten sie zu einem Wettkampf auf den Spiegelsee hinausgleiten. Carlos nickte Jury durchaus freundlich zu. «Momentito. Mein Gott, haben Sie schönes Haar; genau diese Nuance Kastanienbraun habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.»
Jeannine schnippelte und plapperte. «Also, wenn du mich fragst, man sollte es ihnen ruhig sagen, finde ich, wenn sie eine Frisur haben wollen, die nur jemandem in meinem Alter steht.» Hier drehte sie sich zu Jury um und blickte ihn
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