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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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ihre eigene Religion aus einer Laune heraus beim Einkaufsbummel erstanden. «Aber das heißt nicht, daß ich anderen, denen Weihnachten etwas bedeutet, keine Geschenke mache.»
    Sie saßen in Mrs. Wassermans Kellerwohnung, tranken Kaffee und aßen Kuchen. Er war müde nach dem langen Besuch am Eaton Place, und doch hatte er nicht bedauert, daß sie ihn vom Fenster aus gesehen und eingeladen hatte. Jury mochte die zwei Etagen zu seiner leeren Wohnung nicht hinaufgehen. Vielleicht sollte er Cyril adoptieren; Mrs. Wasserman würde ihn bestimmt gerne füttern, so wie sie es auch mit Jury tat, wann immer sie Gelegenheit dazu hatte.
    Sie war erstaunt gewesen, ihn zu sehen, denn er hatte ihr erzählt, er verbringe die Feiertage bei seiner Cousine in Newcastle. Erstaunt und erfreut. Jury garantierte nämlich ihre Sicherheit. Die Riegel, Schlösser, Ketten und Gitter an ihrer Tür – die er in der Mehrzahl eigenhändig angebracht hatte – waren kein Vergleich zu einem leibhaftigen Superintendent von Scotland Yard, der über einem wohnte und nun sogar am selben Tisch mit einem saß.
    Eine Weile lang war sie behaglich auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht und hatte über das Weihnachtsfest geplaudert; jetzt beugte sie sich zu ihm herüber und senkte die Stimme zu einem Flüstern, als hielten die Riegel und Gitter nicht nur Diebe fern, sondern auch Jahwe, den Gott der Juden: «Ehrlich gesagt, ich mag Ihr Weihnachten.» Als hätte Jury das Fest erfunden. «All diese Dekorationen, die bunten Lichter, und dann sehe ich immer so gerne, wie Prinz Charles die Lichter an dem großen Weihnachtsbaum einschaltet … Und Selfridge’s! Haben Sie die Schaufenster gesehen?» Jury schüttelte den Kopf. «Sie müssen sie sich einfach ansehen! Ich weiß ja, Sie haben viel zu tun, aber nehmen Sie sich mal ein bißchen Zeit. Die haben dort die ganze Weihnachtsgeschichte aufgebaut, von Fenster zu Fenster, und man geht um das Gebäude herum und sieht die Drei Weisen aus dem Morgenland, das Christkind und so weiter!»
    Jury lächelte. «Bei Peter Jones haben sie die Drei Weisen auch. Die kommen ganz schön in der Weltgeschichte rum.»
    Mrs. Wasserman winkte verächtlich ab. «Ach, dieser Laden … Nur weil er am Sloane Square ist … nein, nein. Selfridge’s müssen Sie sich ansehen. Das sind vielleicht Schaufenster, Mr. Jury.»
    Er dachte an die Drei Weisen und an Maureen und an die Church of Scotland.
    «Entschuldigen Sie, aber Sie sehen ein bißchen niedergeschlagen aus. Das liegt bestimmt an Ihrer Arbeit. Hier, nehmen Sie noch ein Stück Kuchen.»
    Er schüttelte den Kopf und lächelte. «Wahrscheinlich liegt es wirklich an meiner Arbeit. Tut mir leid.»
    «Es tut Ihnen leid? Sie entschuldigen sich bei mir ?» In gespieltem Entsetzen spreizte sie die Finger über ihrem ausladenden, in Schwarz gehüllten Busen. Ihr Haar war ebenso schwarz wie ihr Kleid und wie immer straff nach hinten gekämmt und in einem Knoten zusammengefaßt, der so fest war, daß Jury oft dachte, der Kopf müsse ihr davon weh tun. «Bei mir entschuldigt er sich», sagte sie zu dem leeren Stuhl neben Jury wie zu einem dritten Besucher. Sie schenkte Kaffee nach. «Nach allem, was Sie für mich getan haben, müssen Sie sich bestimmt nicht entschuldigen, wenn Sie einmal niedergeschlagen sind.»
    «Danke. Aber so viel habe ich ja gar nicht getan. Ich habe Ihnen lediglich geholfen, ein paar Fenstergitter und ein Riegelschloß anzubringen.»
    Mrs. Wasserman stellte die Kaffeekanne ab und wandte sich erneut an den unsichtbaren Dritten. «Nur ein Schloß, sagt er.» Sie schüttelte traurig den Kopf über Jurys scheinbare Einfalt. «Sie haben mir schon so viel geholfen, seitdem Sie hier eingezogen sind. Hatte ich nicht sogar Angst, mit der U-Bahn zu fahren?» Sie nippte an ihrem Kaffee. «Und eines Tages werden Sie ihn finden, das weiß ich.»
    Nach all dem Geplauder über weihnachtliche Schaufenster dauerte es einen Augenblick, bis Jury klar wurde, wen sie meinte: nicht Gott sollte er finden, sondern den gnadenlosen Verfolger, der nach Mrs. Wassermans Überzeugung seit Jahren hinter ihr her war. Jury wußte jedoch, daß es diesen Mann gar nicht gab.
    Aber für Mrs. Wasserman existierte er. Seit ihrer Flucht aus Polen während des Zweiten Weltkrieges hatte sich sein Bild unauslöschlich in ihre Seele eingebrannt. Sie nannte ihn den Alten Krieg, als würde sie zwischen bedeutsamer Vergangenheit und flüchtiger Gegenwart unterscheiden. Den Vietnamkrieg hielt sie für ein dummes und

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