Inspector Jury bricht das Eis
ich doch auch hoffen, daß jemand mich bei sich aufnimmt. Ich habe kaum noch Verwandte. Bloß eine alte Tante in der Grafschaft Clare.» Sie errötete. Die Maureens dieser Welt blieben nüchtern und sachlich und belästigten andere nicht mit ihren Problemen. Sie räusperte sich und fuhr mit leiser Stimme fort. «Ich wollte nur sagen, ja, es war eine Art Verpflichtung.» Sie sah Jury aus traurigen Augen an. «Es hieß, Helens Vater hätte sich umgebracht. Und dann ist ihre Mutter gestorben, wahrscheinlich an gebrochenem Herzen.» Auch das war typisch: der Hang zur romantischen Verklärung.
«Edward Parmenger hat sie also bei sich aufgenommen, schien das aber nicht gerne zu tun?» Jury beugte sich über den Tisch und legte ihr die Hand auf den Arm. «Ich vermute, daß Edward Parmenger Helen Minton loswerden wollte», fuhr er fort, «und sie auf dieses teure Internat schickte, weil er sie nicht gerne in der Nähe seines Sohnes sah. Die beiden mochten sich sehr – und sie waren Cousin und Cousine. Zudem war Helen ein hübsches Mädchen. Und ihr Vater war wohl kein sehr charakterfester Mann …» Er wartete; seine Hand blieb auf ihrem Arm liegen. Wiggins machte seine Notizen und warf Jury zwischendurch ganz gegen seine Art finstere Blicke zu.
Sie seufzte und ergriff den Schürhaken, um im Kamin herumzustochern. Doch Jurys Hand hielt sie am Platz fest, so daß sie nicht an das Feuer herankam und ihre Bemühungen schnell wieder aufgab. «Ihr Vater war Mr. Edwards jüngerer Bruder. Er trank zuviel und spielte. Er arbeitete für Mr. Edward und hinterging ihn, indem er – wie sagt man? – ‹die Bücher frisierte›.»
«Sie meinen also, der gute Onkel Edward hat dann Miss Minton dafür büßen lassen?» fragte Wiggins.
«Es sah jedenfalls so aus. Andererseits mochte er seine Schwägerin wirklich gern. Das war auch kein Wunder. Helen – ich meine Miss Helen war ihr in allem sehr ähnlich. Auch im Aussehen. Sie war ein stiller Typ. Und als alles über ihren Mann herauskam, hat es Miss Helens Mutter einfach umgebracht, und dann drohte Mr. Edward auch noch mit dem Gericht und …» Maureen hob die Hände in einer hilflosen Geste.
«Und als alles so tragisch endete, wollte er vielleicht sein Gewissen beruhigen, indem er sich Helens annahm», sagte Jury. «Aber er wollte sie nicht um sich haben. Deswegen hat er sie aufs Internat geschickt.» Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte, dachte er.
Sie wandte das Gesicht ab. Jury hatte Mitleid mit ihr. Er bemerkte erst jetzt, daß im Verlauf des Gesprächs die Jahre zusammen mit der ganzen Förmlichkeit von ihr abgefallen waren: unsichtbare Hände schienen ihren Kragen und ihre Haarnadeln gelöst zu haben; eine dunkle Haarsträhne hing über ihre Wange, und der Kamm, der die Frisur am Hinterkopf hielt, war verrutscht. Sie starrte ins Feuer und sagte leise: «Ach, das arme Mädchen.»
«Er wollte seinen Sohn Frederick von ihr fernhalten.»
Sie schüttelte müde den Kopf. «Ich bin wirklich ganz offen zu Ihnen. Ich weiß es nicht.»
Es mochte noch nicht die ganze Geschichte sein, aber Maureen Littleton war am Ende ihrer Kräfte. Jury erhob sich. Wiggins tat es ihm widerstrebend nach. Er hatte sich so sehr an Maureens Anblick geweidet und hingebungsvoll seine Füße am prasselnden Feuer gewärmt, daß er sogar vergessen hatte, sich weiterhin Notizen zu machen. «Danke, Maureen. Sie haben uns ein gutes Stück weitergeholfen. Bemühen Sie sich nicht. Wir finden allein hinaus.»
Augenblicklich verwandelte sie sich wieder in die adrette, pflichtbewußte Haushälterin. Frisur, Kragen und Uniform wurden zurechtgerückt, das Gesicht nahm wieder einen dienstbeflissenen Ausdruck an, und ein Auf gar keinen Fall, Sir hing unausgesprochen in der Luft.
Es war ein schönes Haus; die Schatten in der schwach erleuchteten Eingangshalle fielen ebenso schwer herab wie die dunklen Vorhänge an den hohen Fenstern von Helen Mintons Wohnzimmer, an dem ihr Weg zur Haustür vorbeiführte. Auch im Wohnzimmer brannte ein Feuer, und Jury sah den kleinen Kopf eines Dackels in die Höhe fahren, der den Geruch von Fremden witterte.
«Er gehört ihr», sagte Maureen. Sie betraten das Zimmer, und der kleine Hund rappelte sich mühsam auf, als wäre sein Gewicht oder seine Trauer zu schwer für seine Beine. Er hatte auf einer alten Decke vor einem ledernen Ohrensessel gelegen, der am Feuerstand. «Er will einfach nicht dort weg. Ich bringe ihn immer in mein Wohnzimmer, damit er da vor dem Feuer
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