Inspector Rebus 08 - Das Souvenir des Mörders
gelegentlich. In den letzten Jahren hatte er wieder angefangen, in die Kirche zu gehen, aber jetzt bedauerte er es, bedauerte es, sich eingebildet zu haben, er sei in Sicherheit.
Es gab keine Sicherheit auf dieser Welt, ebenso wenig wie es sie in der anderen geben würde.
Er stieg am Haymarket aus - im Sommer war es hier einfacher, ein Taxi zu bekommen -, aber als er in den Sonnenschein hinaustrat, beschloss er, zu Fuß zu gehen. Zum Hotel war es nur ein Spaziergang von fünf, zehn Minuten. Sein Koffer besaß Räder, und seine Umhängetasche war nicht besonders schwer. Er holte tief Luft: Abgase und ein Hauch von Brauereiduft. Müde, die Augen zusammengekniffen, blieb er kurz stehen und setzte sich die Sonnenbrille auf. Schlagartig gefiel ihm die Welt besser. Als er einen Blick in ein Schaufenster warf, sah er lediglich einen x-beliebigen, von der Reise ermüdeten Geschäftsmann. Weder sein Gesicht noch seine Statur wiesen irgendwelche auffälligen Merkmale auf, und seine Kleidung war stets konservativ: ein Anzug von Austin Reed, Hemd von Double 2. Ein gut gekleideter, erfolgreicher Geschäftsmann. Er überprüfte den Knoten seiner Krawatte und fuhr mit der Zunge über seine zwei einzigen falschen Zähne; die hatte er sich vor fünfundzwanzig Jahren einsetzen lassen müssen.
Im Hotel dauerte das Einchecken nur wenige Augenblicke. Im Zimmer setzte er sich an den kleinen runden Tisch, öffnete den Laptop und schloss ihn an, nachdem er am Netzteil die Spannung von 110 auf 240 Volt umgestellt hatte. Er tippte sein Passwort ein und doppelklickte dann auf die Datei namens PARVENÜ. Sie enthielt seine Notizen über den so genannten Johnny Bible, sein eigenes psychologisches Profil des Killers. Es nahm schon sehr zufrieden stellende Konturen an.
Bible John überlegte sich, dass er über etwas verfügte, was die Polizei nicht hatte: Insiderkenntnisse davon, wie ein Serienmörder arbeitete, dachte und lebte, von den Lügen, die er erzählen musste, seinen Verstellungen und Verkleidungen, von dem geheimen Leben hinter dem Alltagsgesicht. Das gab ihm einen Vor sprung. Mit einer Prise Glück würde er Johnny Bible vor der Polizei zu fassen bekommen.
Es gab mehrere mögliche Ansätze. Erstens: Aus seiner Arbeitsweise ging klar hervor, dass der Parvenü Kenntnis vom Bible-John-Fall hatte. Wie gelangte er an dieses Wissen? Der Parvenü war in den Zwanzigern, zu jung, um sich an Bible John erinnern zu können. Also hatte er irgendwo von der Sache gehört oder darüber gelesen und dann weiterführende Recherchen angestellt. Es gab Bücher - manche jüngeren, manche älteren Datums -, die sich ausschließlich oder unter anderem mit den Bible-John-Morden befassten. Vorausgesetzt, Johnny Bible war ein gewissenhafter Forscher, hatte er vermutlich die gesamte vorhandene Literatur aufgearbeitet. Da aber ein Teil des Materials schon lange vergriffen war, musste er in Antiquariaten gestöbert oder aber Bibliotheken besucht haben. Das engte die Suche erfreulich ein.
Eine zweite, damit zusammenhängende Spur: Zeitungen. Wieder war es unwahrscheinlich, dass der Parvenü einfach so Zugang zu ein Vierteljahrhundert alten Blättern haben sollte, und nur sehr wenige Bibliotheken bewahrten Zeitungen so lange auf. Weitere erfreuliche Einengung der Suche.
Dann der Parvenü selbst: Viele Serienmörder machten am Anfang Fehler - Fehler, die wegen mangelhafter Planung oder schlicht aus Nervosität zustande kamen. Bible John entsprach in dieser Hinsicht nicht dem Schema: Sein eigentlicher Fehler war erst im Zusammenhang mit Opfer Nummer drei passiert, als er sich mit deren Schwester ein Taxi geteilt hatte. Gab es Opfer, die dem Parvenü entkommen waren? Das bedeutete, neuere Zeitungen sichten, nach Überfällen auf Frauen in Aberdeen, Glasgow, Edinburgh suchen, die Fehlstarts und frühen Misserfolge des Killers herausfinden. Das würde eine zeitraubende Arbeit werden. Aber auch eine therapeutische.
Er zog sich aus und duschte, dann schlüpfte er in legerere Sachen: marineblauer Blazer und Khakihose. Es erschien ihm zu riskant, von seinem Zimmer aus zu telefonieren - die Nummern würden an der Rezeption gespeichert werden -, also verließ er das Hotel und trat hinaus in den Sonnenschein. Da Telefonzellen heutzutage keine Telefonbücher mehr enthielten, ging er in ein Pub, bestellte ein Tonic Water und bat dann um das Telefonbuch. Die Bardame - noch keine zwanzig, Nasenpiercing, pinkfarbenes Haar -reichte es ihm mit einem Lächeln. An seinem Tisch
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