Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
nächsten Mal Glauben geschenkt? Und die Missbrauchsvorwürfe bezogen sich in vielen Fällen auf Oralverkehr und Masturbation... da lässt sich medizinisch nicht viel nachweisen, Inspector.«
»Nein«, sagte Rebus nachdenklich. »Deswegen hat er also nicht ausgesagt?«
»Jedenfalls nicht während der Verhandlung. Der Staatsanwalt meinte, das wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Hätte der Anklage sogar schaden können, wenn die Geschworenen dadurch ins Zweifeln gekommen wären.«
»In welchem Fall vielleicht die Verteidigung den Doktor als Zeugen aufgerufen hätte.«
»Ja, hat sie aber nicht, und ich wollte Cordover nicht erst auf die Idee bringen.« Sie verstummte. »Glauben Sie, dass Margolies in irgendeiner Weise an einer Vertuschungsaktion beteiligt war?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich hab mich das selbst schon gefragt. Ich meine, war doch möglich, dass es in Shiellion Leute gab, die durchaus einen Verdacht hatten, was da ablief. Aber keiner hat sich vorgewagt.«
»Aus Angst, dem Ruf des Heims zu schaden?«
»Oder weil die Kirche Druck machte. Hat's in der Vergangenheit durchaus schon gegeben. Natürlich wäre auch ein noch schlimmeres Szenario denkbar.«
Rebus graute vor der Vorstellung, wie dieses Szenario aussehen mochte, aber er fragte trotzdem.
»Ganz einfach«, sagte sie. »Alle wussten Bescheid, aber es war ihnen schlicht egal. So, und wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich möchte wieder rein und mich bis zum Eichstrich voll laufen lassen.« Rebus bedankte sich und legte auf. Stützte den Kopf in die Hände und starrte auf seinen Schreibtisch.
Alle wussten Bescheid... aber es war ihnen schlicht egal ...
48
Wie schon während ihrer Verhandlung saßen Ince und Marshall im Saughton-Gefängnis. Der Unterschied war, dass sie sich jetzt, nach Feststellung ihrer Schuld, nicht mehr in U-Haft befanden. Als Untersuchungshäftlinge hatten sie ihre eigenen Sachen tragen, sich von draußen Essen kommen lassen und ihren Tagesablauf weitgehend selbst bestimmen dürfen. Jetzt würden sie sich an die Sträflingskleidung und all die übrigen Annehmlichkeiten des eigentlichen Gefängnislebens gewöhnen müssen.
Sie waren in getrennten Zellen untergebracht, mit einer leeren dazwischen, so dass eine geringere Gefahr der Kommunikation bestand. Rebus wusste nicht, wozu man sich überhaupt die Mühe machte; wahrscheinlich würde man sie am Ende sowieso in dasselbe Sexualtäterprogramm stecken.
Er musste eine schwierige Wahl treffen: Ince oder Marshall? Sicher, wenn's mit dem einen nicht klappte, hielt ihn niemand davon ab, es mit dem anderen zu versuchen. Aber das hätte bedeutet, die ganze Prozedur noch einmal von vorn durchzuziehen, dieselben Fragen zu stellen, dieselben Spielchen zu spielen. Die richtige Wahl würde ihm den ganzen Ärger ersparen.
Er entschied sich für Ince. Seine Überlegung: Ince war der Ältere von beiden, der mit dem höheren IQ. Und auch wenn er zu Anfang ihrer Beziehung zweifellos der Anführer war, wurde der Zögling schon bald zum Lehrmeister. Im Gerichtssaal war Marshall derjenige gewesen, der finster dreinblickte und sich in Szene setzte; derjenige, der den Eindruck erweckte, als ginge ihn die Verhandlung nicht das Geringste an.
Derjenige, der keinerlei Anzeichen von Scham gezeigt hatte, selbst als seine Opfer ihre Geschichte erzählten.
Derjenige, der auf dem Weg zurück in die Zelle ein paar Mal die Treppe hinuntergefallen war.
Ja, Marshall hatte von Harold Ince eine Menge gelernt, aber er hatte dem noch einiges hinzugefügt. Er war der Rücksichtslosere, der Amoralischere, der am wenigsten Reumütige von beiden. Derjenige, der glaubte, die ganze Sache sei nicht sein, sondern das Problem der Gesellschaft. Während der Verhandlung hatte er Aleister Crowley zitiert: einzig er habe das Recht, seine Handlungen als »gut« oder »böse« zu bewerten.
Das Gericht hatte sich wenig beeindruckt gezeigt.
Rebus saß im Besuchszimmer und rauchte eine Zigarette. Er hatte Patience angerufen, lediglich ihren AB erreicht und sich von ihm sagen lassen, er möchte es doch mit ihrer Handynummer probieren. Das hatte er getan und erfahren, dass sie bei einer Freundin war. Ebenfalls Ärztin, gegenwärtig in Schwangerschaftsurlaub.
»Kann sein, dass ich über Nacht hier bleibe«, sagte sie. »Ursula hat's mir angeboten.«
»Wie geht's ihr?«
»Ganz mies.«
»O weh.«
»Nicht so: Es geht ihr mies, weil sie nicht trinken darf. Aber keine Sorge, ich trink für sie mit.«
Rebus lächelte.
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