Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
auf die Schulter.
Archibald sah an ihm vorbei zu John Rebus. »Ob er sie tatsächlich getötet hat... werde ich nie mit Sicherheit wissen, stimmt's?«
Tränen rannen über Archibalds Wangen und Kinn. Hogan tupfte sie mit dem schon feuchten Tuch auf.
»All die Jahre, die ich es nicht gewusst habe... so ein verdammter Schwachsinn, mir einzubilden, ich könnte es herausfinden...« Er schloss die Augen und weinte leise. In den anderen Betten rührte sich niemand. Vielleicht war nächtliches Weinen hier nichts Ungewöhnliches. Bobby Hogan hielt die Hände des alten Mannes umklammert. Es sah so aus, als drückte Archibald mit ganzer Kraft. Alan Archibald lag im Krankenhaus, weil eine fixe Idee von ihm Besitz ergriffen hatte. Aus seinem jetzigen Wissen heraus fragte sich Rebus, ob Jim Margolies vielleicht auch besessen gewesen war. Da er sonst nichts zu tun hatte, fuhr er nach St. Leonard's zurück. Er brauchte ein paar Stunden, mehrere Anrufe und jede Menge widerwillig gewährte Hilfe, bis er endlich hatte, was er wollte.
Rebus saß an seinem Schreibtisch und ging die verschiedenen Stichpunkte auf seinem Notizblock durch. Die Leute vom Gesundheits- und Sozialamt, die er gesprochen hatte, fragten alle, ob das nicht bis morgen warten könne. Rebus hatte darauf beharrt, dass es das nicht könne.
»Es geht um einen Mordfall«, war sein einziges Argument gewesen. Nach näheren Einzelheiten gefragt, hatte er geantwortet, er könne »zum gegenwärtigen Zeitpunkt« nichts sagen, und gehofft, wie die Sorte Detective zu klingen, den sein jeweiliger Gesprächspartner vermutlich erwartete: ein Bürokrat, ein Beamter, der bei seinen Ermittlungen einem strengen Dienstplan gehorchte, der keine nächtlichen Unterbrechungen gestattete.
Am Ende hatte er die verschiedenen Behörden aufsuchen müssen, um die angeforderten Informationen persönlich in Empfang zu nehmen. Danach blieb ihm nicht viel anderes zu tun, als zum Revier zurückzufahren und das zusammengetragene Material über Dr. Joseph Margolies durchzuackern.
Dr. Margolies war in Selkirk geboren und auf Schulen in den Borders und in Fettes gegangen. Sein Medizinstudium hatte er, nach Praktika in Afrika bei einer kirchlichen karitativen Einrichtung, an der University of Edinburgh abgeschlossen. Hatte zunächst als Internist praktiziert und später, nach einer Spezialisierung in Kinderheilkunde, an der Universität gelehrt. Schließlich war er von der Stadtverwaltung damit beauftragt worden, wie es in Siobhans Memo hieß, sich um die städtischen Kinderheime in Lo-thian »zu kümmern« - ein Job, der auch die Betreuung städtisch anerkannter, aber privat geführter Heime beinhaltete, wie zum Beispiel solche, die von Kirchen und verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen unterhalten wurden.
Konkret bestand seine Aufgabe darin, Heimkinder zu beobachten, die Anzeichen von Misshandlung oder Missbrauch zeigten, und, sollten entsprechende Klagen vorgebracht werden, sie ärztlich zu untersuchen. Außerdem waren manche der Heiminsassen als »schwierige Fälle« eingestuft, und Dr. Margolies musste regelmäßig ärztliche Gutachten über sie erstellen. Er konnte die Hinzuziehung eines Psychiaters oder aber auch die Verbringung in eine andersgeartete Anstalt empfehlen. Seine Macht war praktisch uneingeschränkt, sein Wort Gesetz.
Als er mit seiner Lektüre etwa zur Hälfte durch war, verspürte Rebus ein mulmiges Gefühl im Bauch. Er hatte einen leeren Magen, aber er glaubte nicht, dass es damit zusammenhing. Trotzdem zwang er sich, ein bisschen an die frische Luft zu gehen, und genehmigte sich bei Brattisani's eine Kleinigkeit zu essen und anschließend Tee. Er war fast eine Stunde lang nicht auf der Wache gewesen, konnte sich aber an nichts von dem erinnern, was während dieser Zeit passiert war. Hatte anderes im Kopf gehabt.
Er musste an einen nicht lang zurückliegenden Fall denken: ein Priester, der Kinder jahrelang missbraucht hatte. Die Kinder waren in der Obhut von Nonnen gewesen, und wenn eines von ihnen sich beklagte, wurde es von den Nonnen vertrimmt, als Lügner beschimpft und zur Beichte geschickt - die ihnen von genau jenem Priester abgenommen wurde, den sie des Missbrauchs bezichtigt hatten.
Rebus wusste, dass Pädophile durchaus imstande waren, ihre Veranlagung, während sie ihre Ausbildung für einen Posten in einem Waisenheim oder einer ähnlichen Institution absolvierten, monateund jahrelang zu verheimlichen. Sie bestanden alle Prüfungen und psychologischen Tests
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