Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
und ließen erst dann ihre Maske fallen. Ihr Trieb war so stark, dass sie die größten Entbehrungen auf sich nahmen, um ihn zuletzt doch befriedigen zu können. Und manchmal wäre dieser Trieb auch für immer latent geblieben, wenn sie nur nicht an irgendeinem Punkt ihres Lebenswegs einen Gesinnungsgenossen getroffen hätten, der sie dazu anspornte, ihn endlich auszuleben.
Wie Harold Ince und Ramsay Marshall. Rebus konnte sich durchaus vorstellen, dass sie allein vielleicht nie die Kraft aufgebracht hätten, diese Lebensweise des systematischen Kindesmissbrauchs zu verwirklichen. Gemeinsam aber hatten sich ihre Lüste und Begierden gegenseitig hochgeschaukelt und verstärkt, wodurch deren letztendliches Hervorbrechen umso brutaler und erschreckender gewesen war. Rebus las noch einmal das gesamte Material über Dr. Joseph Margolies durch, bis keine Zweifel mehr bestanden:
An der Tatsache, dass Margolies zur Zeit des Shiellion-Skandals für die verantwortliche Behörde gearbeitet hatte.
Dass er kurz danach »aus Gesundheitsgründen« vorzeitig aus dem Dienst ausgeschieden war.
Dass seine damaligen Kollegen es ihm als Zeichen von Mut und Charakterfestigkeit angerechnet hatten, wie er nach dem Selbstmord seiner Tochter weiter seine Pflichten wahrgenommen hatte.
Über die Tochter selbst gaben die Akten nicht viel her. Sie, ein stilles, verschlossenes Kind, hatte sich mit fünfzehn das Leben genommen, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Die Pubertät hatte ihr das Leben schwer gemacht. Sie hatte sich vor anstehenden Prüfungen gefürchtet. Für ihren Bruder Jim war ihr Tod ein entsetzlicher Schlag gewesen...
Sie war nicht gesprungen, sondern hatte sich zu Hause, im Badezimmer, die Pulsadern aufgeschnitten. Ihr Vater, der am Morgen als Erster aufstand, hatte die Tür eingetreten und sie gefunden. Man vermutete, dass es während der Nacht passiert war.
Rebus rief Jane Barbour an. Fehlanzeige. Mit ein paar Notlügen und viel Hartnäckigkeit bekam er ihre Handynummer heraus. Als sie sich meldete, hörte er im Hintergrund laute Musik und Gegröle.
»Heiße Party?«
»Wer spricht da?«
»DI Rebus.«
»Moment, ich geh nur grad nach draußen.« Der Lärm verebbte. Barbour atmete geräuschvoll aus. Sie klang betrunken. »Wir sind im Polizeiklub.«
»Was wird gefeiert?«
»Na raten Sie mal.«
»Schuldspruch?«
»Zwei von der Sorte. Nicht ein Geschworener hat gegen uns gestimmt.«
Rebus lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Glückwunsch.«
»Danke.«
»Cordover wird vor Wut schäumen.«
»Scheiß auf Cordover. Petrie verkündet morgen das Strafmaß. Der steckt sie bestimmt für ewig und drei Tage ins Loch.«
»Tja, noch mal Glückwunsch. Ist ein Bombenresultat.«
»Warum kommen Sie nicht auch? Wir haben jede Menge zu trinken hier und...«
»Danke, nein. Aber wie es der Zufall so will, rufe ich wegen Ince und Marshall an.«
»Ach?«
»Indirekt jedenfalls. Dr. Joseph Margolies.«
»Ja?«
»Wissen Sie, wer er ist?«
»Ja.«
»Wurde er in der Verhandlung als Zeuge aufgerufen?«
»Nein. Mann, ist das heute Nacht lau draußen!«
Rebus fragte sich, ob ihre überdrehte Stimmung noch andere Gründe haben mochte. »Warum nicht?«
»Wegen der Beweislage. Es stimmt zwar, dass ein paar Shiellion- Kinder seinerzeit Anschuldigungen vorgebracht hatten, aber man schenkte ihnen keinen Glauben.«
»Aber es wird doch wohl eine ärztliche Untersuchung gegeben haben?«
»Natürlich, Dr. Margolies führte sie selbst durch. Ich habe ihn mehrmals dazu befragt. Aber man wusste, dass die fraglichen Jungs schwul waren: sie arbeiteten als Gelegenheitsstricher am Calton Hill. Wenn sie von Shiellion ausbüchsten, wusste jeder, dass man sie dort finden würde. Also: Hinweise auf Analverkehr waren für sich noch kein Beweis für Missbrauch - ich zitiere jetzt den Staatsanwalt.
Wenn Sie mich fragen, waren diese Kids minderjährig und in der Obhut der Fürsorge, weswegen sich jeder , der sexuell mit ihnen verkehrte, des Kindesmissbrauchs schuldig machte.« Sie schwieg kurz. »Ende der Moralpredigt.«
»Je eher Sie diesen Fall vom Hals haben, desto besser.«
»Warum wühlen Sie dann alles wieder auf?«
»Ich versuche, mir ein Bild von Dr. Margolies zu machen.«
»Warum?«
»Als Sie mit ihm gesprochen haben, war er in der Lage, Ihnen zu helfen?«
»So weit man es von ihm erwarten konnte. Er wies selbst darauf hin, dass die Jungs schon zu früherer Gelegenheit beim Lügen ertappt worden waren - wer hätte ihnen also beim
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