Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
angesehen und erkannt, dass er das Einsteckschloss nicht aufbekommen hätte... Rebus legte das Auge an den Spion. Plötzlich tauchte Oakes' Gesicht aus dem Nichts auf. Rebus konnte hören, was er sagte.
»Kleines Schwein, kleines Schwein, lass mich bitte rein.« Aus Kubricks Shining .
Rebus ging in die Küche, öffnete die Besteckschublade. Er fand ein dreißig Zentimeter langes Sabatier mit genietetem schwarzem Griff. Er konnte sich nicht erinnern, es jemals benutzt zu haben. Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge und schnitt sich.
Das würde gehen.
Rebus war schon zu anderen Gelegenheiten mit einem Messer angegriffen worden. Aber mit den meisten Angreifern hatte er reden können. Und mit den anderen war er fertig geworden... Aber das war früher und das hier eine völlig andere Situation. Er ging zurück in die Diele und beschloss, Oakes nicht die Initiative zu überlassen. Das Tranchiermesser in der Hand, zog er die Sicherheitskette ab und riss die Tür auf. Er hatte mit einem sofortigen Angriff gerechnet, aber der blieb aus. Er reckte den Kopf vor, konnte Oakes auf dem Absatz nicht sehen.
»Schweinchen geht Gassi.«
Oakes' Stimme auf halber Treppe nach unten. Rebus trat aus seiner Wohnung, ohne Eile, bemüht, Ruhe zu bewahren. Er starrte Oakes in die Augen, behielt dabei dessen Messer fest im Blick.
»Huuh, Sie haben aber ein großes«, spottete Oakes. Er stieg rückwärts die Treppe hinunter, völlig selbstsicher. »Tragen wir's draußen aus, Rebus. An der frischen Luft.«
Er drehte sich um und lief aus dem Haus. Rebus überlegte kurz. Seine zwei Telefone lagen da auf dem Boden. Er hätte das Handy aufheben und die Wache anrufen sollen, schleunigst Verstärkung anfordern. Dann dachte er an Alan Archibald und Patience und Janice... und an das Grab seiner Eltern. An Jim Stevens. Zeit, der Sache ein Ende zu machen. Er durfte Oakes nicht aus den Augen verlieren, ihn nicht wieder entwischen lassen.
Er hob sein Handy auf, steckte es in die Tasche und eilte zur Tür. Oakes stand auf dem Bürgersteig, nickte.
»So ist's recht. Nur wir beide.«
Er setzte sich in Bewegung. Rebus folgte ihm. Sie gingen beide mit raschem Schritt, ohne dass dabei einer von beiden ins Laufen verfallen wäre. Oakes sah die ganze Zeit über die Schulter, behielt seinen Verfolger im Auge. Er schien sich darüber zu freuen, wie die Dinge sich entwickelten. Rebus begriff zwar nicht, warum, aber er blieb wachsam. Bislang hatte Oakes nichts ohne einen triftigen Grund getan. In Rebus' Kopf hallten die Worte: Mach ein Ende! Das ist die letzte Runde ...
»Gut für den Kreislauf, so ein Spaziergang am frühen Morgen. Guter Ausgleich für die schottische Diät. Ich hab in Ihren Kühlschrank geguckt, Mann. Da hatte ich ja in meiner Scheißzelle in Walla Walla mehr Fressalien. Aber dafür im Wohnzimmer Whisky neben dem Sessel: So ist's recht!« Er lachte. »Was sind Sie, Sam Spade oder was?«
Rebus sagte nichts. Oakes war ein ganzes Stück jünger und fitter als er. Das Letzte, was Rebus wollte, war, sich außer Atem zu quasseln. Sie überquerten die Marchmond Road, gingen die Sciennes entlang und am Kinderkrankenhaus vorbei. Rebus verfluchte sich dafür, dass er in so einer ruhigen Gegend wohnte. Die Pubs waren längst ausgestorben; die Fish- &-Chips-Shops hatten geschlossen. Nachtklubs gab es weit und breit keine, nicht mal einen mickrigen Massagesalon. Dann auf der anderen Straßenseite zwei junge Männer auf dem Heimweg; die Beine spielten so eben noch mit - das Ende einer durchsoffenen Nacht. Einer von ihnen vertilgte gerade einen Kebab. Sie sahen sich nach der seltsamen Verfolgungsjagd um. Oakes hatte sein Messer in der Tasche, aber Rebus hielt seins gut sichtbar in der Hand.
»Rufen Sie die Polizei!«, schrie er.
Oakes lachte bloß, als ob sein Kumpel betrunken sei und zum Spaß mit einem Gummidolch herumfuchtelte.
Einer der Männer grinste; der andere, der mit der Kebabsauce am Kinn, gaffte, ohne mit dem Kauen aufzuhören.
»Das ist kein Witz!«, rief Rebus, ohne sich darum zu scheren, wen er alles wecken mochte. »Ruft die Bullen!«
Er konnte nicht stehen bleiben, um ihnen seine Dienstmarke zu zeigen, konnte nicht riskieren, Oakes aus den Augen zu verlieren; es gab zu viele potenzielle Opfer auf den Straßen. Und er durfte den Blick nicht einen Moment von Oakes wenden.
Also gingen sie weiter und ließen die zwei jungen Männer hinter sich zurück.
»Bis die zu Haus sind«, meinte Oakes, »haben sie die ganze Sache vergessen.
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