Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Kalorien sie in den letzten Tagen verspeist hatte. Dabei handelte es sich buchstäblich nur um ein paar Tage, denn am Sonntag hatte sie sich gewogen. Nur mit eisernem Willen war es ihr gelungen, montags und dienstags nicht auch noch auf die Waage zu steigen. Karen Malahyde würde ihr erklären, es sei eine Manie von ihr, aber bei Karen und Hannah war das ja auch in Ordnung. Die beiden waren von Natur aus schlank. Man brauchte unendlich viel Charakterstärke, um mit dem Kalorienzählen aufzuhören, um nicht auf die Waage zu steigen und – das war das Schwierigste – um nicht ständig daran zu denken! Hör auf, daran zu denken, ermahnte sie sich, trat vor die grüne Tür, die direkt vom Gehsteig ins Haus führte, und klingelte.
Das Ganze war ein Kinderspiel, aber das Ergebnis brachte sie keinen Schritt weiter. Die Frau, die ihr öffnete, beantwortete Lyns Frage, ohne sie hereinzubitten.
»Er wird nicht vermisst. Er ist droben. Wollen Sie selbst sehen?«
»Ja, schon.«
Ein schriller Schrei, der Glas hätte zersplittern lassen können, zitierte ihn herbei. »Bertie! Komm runter, Bertie.«
»Was ist passiert?«, fragte Lyn. »Ist er einfach so zurückgekommen?«
»Ja, nach ungefähr einem Jahr. Meinte, er hätte sein Gedächtnis verloren. Jetzt lass ich ihn nicht mehr allein raus. Wenn er rauswill, sag ich: Okay, Bertie, aber ich komm mit. Und genau das mach ich dann. Seit er wieder da ist, ist er nicht mehr allein draußen gewesen.«
Der kleine, ziemlich fette Mann, der in Camouflage-Hosen und einem weiten schwarzen T-Shirt die Treppe herunterkam, sah aus, als hätte er afrikanische Vorfahren oder karibische mit afrikanischen Wurzeln. Lyns Frage nach seiner Identität beantwortete er nur mit einem stummen Nicken. Lyn bat um einen Lichtbildausweis. Zu ihrem Erstaunen zog Mrs. Farrance einen Pass heraus. Der Mann war eindeutig Bertram Farrance. Lyn gab den Pass wieder zurück.
»Alles okay?« Mrs. Farrance klang einigermaßen liebenswürdig. Dann schraubte sich ihre Stimme mehrere Dezibel in die Höhe, und sie brüllte ihrem Ehemann zu: »Okay, Bertie, rauf mit dir. Abmarsch.«
Lyn hoffte, Hannah mit dieser Geschichte zum Lachen zu bringen, aber statt sich über Mrs. Farrance zu amüsieren, hegte die Kommissarin eher Bewunderung für diese Frau und meinte: »Selbstverständlich ist es mir lieber, wenn ich zwei Menschen als gleichwertige Partner erlebe, aber wenn sich ein Ungleichgewicht nicht vermeiden lässt – wenn beispielsweise der Mann sehr verantwortungslos oder schwach ist –, dann ziehe ich eine Situation wie bei den Farrances vor. Auf diese Weise geht wenigstens etwas voran. Wahrscheinlich handelt es sich um eine sehr fähige Frau, die alles im Griff hat.«
Das Gespräch mit Jonathan Pickfords Mutter hatte DS Barry Vine geführt und dabei erfahren, dass ihr Sohn und dessen Freundin im Bankgeschäft tätig waren und täglich mit der Bahn nach London pendelten. Er, der Sohn, war neunundzwanzig und die Freundin dreißig. Vor elf Jahren waren beide noch auf der Universität gewesen. In diesem Haus wohnten sie erst, seit Brenda und ihr Mann vor vier Jahren die beiden Stockwerke des Hauses zu separaten Wohnungen umgebaut hatten.
»Aber Sie und Ihr Mann haben doch schon vor elf Jahren hier gelebt?«
»Wir wohnen hier seit unserer Heirat.« Sie führte ihn in das Wohnzimmer ihrer Erdgeschosswohnung und zeigte ihm von einem Fenster aus das unmittelbar angrenzende Grimble’s Field mit dem zugenagelten verfallenen Bungalow. Da es fast die ganze Nacht geregnet hatte, sah die Natur besonders grün und üppig aus, und der Bungalow verschwand fast zwischen den Bäumen. Nur das polizeiliche Absperrband rings um den Leichenfundort wollte nicht recht zu dieser Szenerie passen. »Der alte Mr. Grimble hat zu seinen Lebzeiten einen so hübschen Garten gehabt«, sagte sie. »Und dauernd hat er darin gearbeitet und alles tiptop gehalten. Bis eine Woche vor seinem Tod noch. Auf seinem Rasen wuchs kein einziges Unkraut. Gleich hinter unserem Zaun hatte er seinen Nutzgarten mit den Gemüsebeeten angelegt, und auf der anderen Seite, bei den Tredowns, standen seine Obstbäume. Ich erinnere mich noch, wie er uns immer Cox-Äpfel und Bramleys geschenkt hat. Zum Kochen, wissen Sie?« Eindringlich musterte sie Barry. Vielleicht hatte er ja noch nie etwas von Apfelkuchen gehört. »Die Bäume stehen natürlich immer noch, aber weil John Grimble sie nie zurückgeschnitten hat und nie etwas daran gemacht hat, tragen sie natürlich
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