Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Titel: Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
Vom Netzwerk:
glücklich oder unglücklich sie sind. Meine Eltern waren zusammen glücklich. Sie zeigten es. Sie liebten Berührungen und waren offen. Immer wenn Papa von der Schule – er war Lehrer an einer Gesamtschule – heimkam, gab er meiner Mutter einen Kuss. Und manchmal, wenn er einen besonders guten Tag gehabt oder das Gefühl hatte, die Welt sei rundum in Ordnung, drückte er sie ganz fest an sich. Vielleicht tat er das aber auch nur, weil er sie liebte. Mit meiner Schwester und mir führte er Gespräche. So etwas ist nur scheinbar selbstverständlich. Die Papas meiner Freundinnen haben sich nie richtig mit ihnen unterhalten. Ich bin bei ihnen zu Hause gewesen und habe gesehen, dass ihre Papas nett und umgänglich und so waren, aber meistens sagten sie zu ihren Kindern nur Sätze wie: »Ja, gut, aber nicht, während ich mir das anschaue«, oder »Ich hatte einen schweren Tag und möchte einfach nur ausspannen, ja?« Mein Papa schien unsere Fragen gern zu beantworten, besonders Fragen über Tiere, Naturkunde und Evolution. Er hatte ein Biologieexamen, und während andere Väter wegen dieses oder jenes Fußballers aus dem Häuschen gerieten, oder wegen der Rolling Stones oder wegen irgendeines Politikers, hieß sein Held Charles Darwin. Am Wochenende ging er mit uns aus. Deshalb kannte ich mich auch beim Erreichen dieser Schicksalslinie im Naturkundemuseum genauso aus wie einige Leute auf dem Sportplatz.
    Er hat uns immer Geschichten erzählt, nicht vorgelesen, sondern erzählt. Und das hat er auch dann noch getan, als wir schon zehn und zwölf Jahre alt waren. Mit Naturwissenschaft, Evolution und dem Verhalten von Tieren hatten diese Geschichten nicht das Geringste zu tun. Wahrscheinlich könnte man sie als Nacherzählungen griechischer Mythen bezeichnen, Geschichten über den ganzen griechischen Götterhimmel, von denen die meisten von Ovid stammten, wie ich später herausfand. Aber am liebsten mochte ich die Geschichte vom Trojanischen Krieg, angefangen mit dem Schönheitswettbewerb, den Paris entschieden hatte, wie er als Belohnung dafür Helena gewann, und wie der Krieg ausbrach, weil Helena die Frau von Menelaos gewesen war, der es übel nahm, dass man sie ihm gestohlen hatte. Seitdem muss ich jedes Mal an meinen Papa denken, wenn ich etwas über diesen Krieg höre, oder wenn die Namen Homer oder Achill fallen, vor allem aber der von Helena. Und dann wünsche ich mir, er wäre nie fortgegangen und hätte uns nie verlassen, oder was er sonst in Wirklichkeit getan haben mag.
    Bei uns zu Hause hatte man voreinander Respekt; so waren meine Schwester Vivien und ich erzogen worden. Wir begriffen, dass Mama und Papa unsere Privatsphäre und unser Recht auf Gehör respektierten, und dass ihnen dasselbe zustand. Wenn ich bei meinen Eltern Fehler suchen müsste – sie hatten ihre Schwächen wie jeder andere Mensch auch –, dann würde ich sagen, dass Mama ein bisschen zu sehr das Heimchen am Herd spielte und herumpusselte, dass sie das Motto »Zurückhaltung ist das beste Lebensprinzip« ein wenig übertrieb und in ihrer reservierten Art fast schon scheu war. Mein Papa hingegen stopfte uns vielleicht zu sehr mit Wissen voll, vielleicht mehr, als wir verdauen konnten. Ansonsten war er ein verschlossener Mensch. Ich weiß nicht, ob das der richtige Ausdruck dafür ist, aber damit meine ich, dass er sich manchmal von uns absonderte und in das kleine Zimmer, das ihm als Büro diente, zurückzog, um dort zu arbeiten. Irgendetwas. Nicht am Wochenende, das gehörte uns. Bei den Mahlzeiten verwickelte er uns liebend gern in Gespräche – angesichts unseres Alters in ziemlich intellektuelle Themen. Er war bereit, uns bei den Hausaufgaben zu helfen, was er auch möglichst gut tat. Aber sobald wir ins Bett gingen, ging er in sein Büro, wo er bis Mitternacht blieb.
    Ich weiß immer noch nicht richtig, was er dort gemacht hat. »Er arbeitet für einen Magisterabschluss«, sagte meine Mutter, und später, er recherchiere für eine wissenschaftliche Arbeit. Das mussten wir akzeptieren. Viele unserer Bekannten hatten auf die eine oder andere Weise mit der akademischen Welt zu tun. Aber jede Nacht? Nicht an den Wochenenden, aber unter der Woche täglich zwei, drei Stunden? Meine nächsten Bemerkungen werden mich als sehr egoistisches, kleines Mädchen abstempeln, und meine Schwester auch, denn Vivien teilte meine Ansicht. Wir hatten ein Reiheneckhaus, und darin gab es außer dem Wohnzimmer ein Schlafzimmer für Mama und Papa, ein

Weitere Kostenlose Bücher