Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
und ihn dann zurückrufen könne. Er traute ihrem Versprechen zwar nicht sonderlich, aber sie rief ihn tatsächlich zurück. Danach hatte er eine Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse.
Am Apparat meldete sich ein Anrufbeantworter. Selina – einen Familiennamen nannte sie nicht – sei momentan nicht zu sprechen, aber auf ihrem Handy erreichbar, wenn es wichtig wäre. Dann folgte eine Nummer. Vermutlich war sie bei der Arbeit, irgendwo in einem Labor. Er zögerte, diese Nummer anzurufen, aber inzwischen war es fast dreizehn Uhr, und vielleicht würde sie zum Mittagessen gehen. Wieder nahm sie nicht ab. Erst bei seinem dritten Versuch meldete sie sich.
»Selina am Apparat. Bleiben Sie bitte dran?« Er tat es. Familiennamen seien wohl vom Aussterben bedroht, dachte er. Bald würden wieder mittelalterliche Zustände herrschen, und die Leute hießen wieder John aus London oder Jane von den Grünen. Und weil man dann nur mit Mühe wüsste, von wem die Rede sei, würden Vornamen immer fremdländischer und seltsamer werden, damit man den einen vom anderen würde unterscheiden können, und dann … Sie war wieder am Apparat. »Entschuldigung. Was kann ich für Sie tun?«
Er erklärte, wer er sei.
»Sie haben meinen Papa gefunden?« Im Nu war sie Feuer und Flamme.
»Nein, nein, Miss Hexham. Das nicht. Ich habe die Auszüge Ihres Buchs gelesen und würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Mehr kann ich momentan dazu nicht sagen. Vielleicht könnte ich zu Ihnen kommen?«
»Ich werde Sie aufsuchen«, sagte sie. »Ich kann es nicht glauben. Man hat mir gesagt, wenn ich über den Vorfall schriebe, und es gäbe einen Vorabdruck in einer Zeitung, dann wäre das ein Weg, um ihn zu finden, aber ich habe nicht daran geglaubt. Wann soll ich kommen?«
Möglichst noch heute Nachmittag, meinte er. Selbstverständlich komme sie. Sie könne sich frei nehmen und wolle auf keinen Fall warten. Wenn sie eine Nacht darüber schlafen würde, brächte sie kein Auge zu. »Na gut«, meinte er, »wann Sie möchten.« Jede Stunde gingen drei Züge vom Victoria-Bahnhof. Wexford war schockiert. In ihrem Buch hatte sie erzählt, dass sie befürchte, ihr Vater sei vielleicht tot, und dass ihre Mutter davon überzeugt gewesen sei, und doch war sie jetzt aufgekratzt und begeistert wie ein Kind, das sich auf ein versprochenes Geschenk freut.
Früher einmal hatte jede Stadt in Großbritannien eine oder vielleicht zwei Straßen, die in den Augen der Bewohner der angeseheneren Stadtteile die letzten Straßen waren, in denen man wohnen wollte. Ebenso gab es ein, zwei Straßen, in denen jeder wohnen wollte, und die im Volksmund als »Millionärsmeile« bekannt waren. Mit dem wild wuchernden Bau von Wohnsiedlungen, neuen Reihenhauszeilen und freistehenden Häuschen hatte sich das geändert. Trotzdem versteckte sich auch dahinter immer noch die schlechteste und die beste Wohngegend, und es waren immer noch dieselben. In Kingsmarkham war die Ploughman’s Lane immer die beste Lage gewesen, und die schlechteste die Glebe Road. Wexford empfand es als Widerspruch, dass der einfachste Landmann, der hinter dem Pflug herging, der Namenspatron einer Prachtstraße mit eleganten Villen wurde, die fast schon an Herrenhäuser erinnerten und die sich nur die Reichsten leisten konnten. Dagegen hatte man die Glebe Road teilsaniert und mit einigen nicht sonderlich hohen Wohnblöcken bebaut, die man nach zehn Stockwerken abgeschnitten hatte, als hätte den Architekten der Mut verlassen.
Im ansehnlichsten Hochhaus wohnten Mateas Eltern, die Imrans, in einer jener Wohnungen, die man vor fünf Jahren erfolgreichen Asylbewerbern zugeteilt hatte. Als Karen mit Lyn die Treppen hinaufstieg, fühlte sie sich wie kurz vor einem Herzanfall; in Cremorne House war der Lift kaputt.
Mit strikter politischer Korrektheit hatte Karen kein Problem, aber Feingefühl war doch etwas anderes, und genau das würde hier nötig sein. Damit hatte sie nicht viel Erfahrung. Es öffnete eine Frau mittleren Alters. Sie trug ein langes schwarzes Gewand und hatte sich hastig ein Kopftuch umgebunden, das sie sofort wieder herunterzog, nachdem Karen und Lyn die Wohnung betreten hatten. Vermutlich hatte sie es nur aufgesetzt für den Fall, dass ein Mann vor der Tür gestanden hätte. Sorgfältig prüfte Mrs. Imran ihre Ausweise und bedeutete ihnen dann mit einer eleganten Bewegung der rechten Hand, sie sollten ins Wohnzimmer kommen.
Vom zehnten Stock aus – die Gemeinde Kingsmarkham war tatsächlich so
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