Inspektor Jury küsst die Muse
schien die Bronzestatue ins Auge gefaßt zu haben. «Du meinst Shakespeare?»
«Ja-ah. Haben Sie was von ihm gelesen? Ich find diesen Shakespeare einfach toll. Wie es euch gefällt hab ich bestimmt schon dreimal gesehen. In der Schule mußten wir es lesen, und ich hab alle Monologe auswendig gelernt.» Sie drückte ihre Zigarette aus. «Hören Sie, Sie müssen Jimmy einfach finden.»
Sie war es bestimmt nicht gewöhnt, bitten zu müssen … zum Teufel, es würde ihn nicht umbringen, wenn er für diesen Fall ein, zwei Stunden drangab. Die Glocken der Dreifaltigkeitskirche erfüllten die Luft mit ihrem Geläut. «Komm, Penny, wir gehen mal zu Shakespeares Geburtshaus rüber und stellen denen dort ein paar Fragen.»
« Ich soll mitkommen?» Daß sie bei den polizeilichen Ermittlungen dabeisein sollte, ließ das traurige Gesicht aufleuchten. Als ob ein Licht durch die Sommersprossen, die wie Staub ihr Gesicht überzogen, hindurchschimmerte, während sie neben Jury über den leuchtendgrünen Rasen auf die Henley Street zuging. Die Odyssee ihres Lebens an der Seite ihrer Stiefmutter und -Schwester war deswegen jedoch nicht zu Ende. «Es ist wie in einem Dampfbad in dem Haus. Jimmy ist mein einziger Lichtblick. Ich geh auch nicht mehr zurück, das hab ich in den letzten Tagen beschlossen. Ich bleib einfach hier und angle mir einen Duke oder einen Earl oder so was Ähnliches. Okay, er ist in Ordnung, aber die beiden sind einfach nicht auszuhalten. Sie nicht mehr um mich zu haben mit ihren Titten und Hintern. Sie kennen nicht zufällig welche, was?»
Jury wußte nicht genau, was sie meinte, Titten und Hintern oder Dukes und Earls. «Ob du’s glaubst oder nicht, ich kenn einen – einen Earl.» Er lächelte.
«Ohne Scheiß?» Sie blieb stehen und sah baß erstaunt zu ihm auf.
«Ohne Scheiß», sagte Jury.
Das Geburtshaus war ein hübsches, gemütliches Fachwerkhaus aus Warwickshire-Stein, dessen Tür beinahe auf gleicher Höhe mit der Henley Street lag. Vor der Tür zu dem Heiligtum wartete eine doppelte Schlange von Pilgern, ungeduldige Eltern und quengelige Kinder mit Eislutschern im Mund. Jury fragte sich, wie viele von den Leuten je Shakespeare gelesen hatten, doch er bewunderte sie und ihre Bereitwilligkeit, das Genie auf Treu und Glauben als solches zu akzeptieren.
«Wie die Schlangen zu E. T. », sagte Penny verdrossen. «Es sind mindestens hundert Leute vor uns.»
«Ich glaube, wir können sie umgehen. Komm.»
Die Türsteherin mit dem Abzeichen der Shakespeare-Stiftung starrte entsetzt auf Jurys Ausweis, obwohl er ihr bereits versichert hatte, daß alles in Ordnung sei. Sie musterte ihn unsicher, als fürchtete sie, er würde nicht nur die Kleine an seiner Seite, sondern die ganze Ausdünstung des Sündenbabels London einschleppen, die sich dann wie eine Patina aus Staub auf die wertvolle Sammlung im Innern legen würde.
Drinnen befanden sich genauso viele Leute wie draußen. Jury zeigte dem Wächter der unteren Räume das Foto von James Carlton Farraday, konnte von ihm jedoch nichts erfahren. Sie bahnten sich einen Weg zum oberen Stock, wo sich noch mehr freundliche, kleine Räume befanden – mit Deckenbalken und weiß getüncht. Die Möbel waren elisabethanisch oder stammten aus der Zeit Jakobs I. aber unglücklicherweise hatte kein einziges Stück Shakespeare gehört (wie ein Führer den Pilgern erklärte), außer einer alten Schulbank aus der Volksschule Stratfords, auf der der junge Will Qualen hatte erdulden müssen. Sie war mit Kerben und Löchern übersät.
Jury ging auf einen älteren Herrn zu, auch einen Wächter, der einer jungen, zerzausten Frau in Shorts und Sandalen etwas über das bleigefaßte Fenster erzählte, in das die Namen der Berühmtheiten vergangener Jahrhunderte mit Diamantringen eingeritzt waren. Die Sandalen entfernten sich klappernd.
Jury zeigte seinen Ausweis. «Ich wüßte gern, ob Sie letzten Montag diesen Jungen hier gesehen haben?»
Der Mann schien darüber erstaunt, daß jemand nach Dingen fragte, die nichts mit Möbeln und Fenstern zu tun hatten. Vor allem aber darüber, daß dieser Jemand von Scotland Yard war. Als Jury ihm das Paßfoto zeigte, schüttelte er den Kopf.
«In den Ferien und vor allem jetzt, gegen Ende des Schuljahres, wimmelt es hier nur so von Schulkindern. Wissen Sie, mit der Zeit sieht einer wie der andere aus. Es sind so viele, und sie stellen so viele Fragen …» In diesem Stil ging es weiter; er erklärte und erklärte, wahrscheinlich weil
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