Inspektor Jury küsst die Muse
Stadtplan von Stratford starrte und von der amerikanischen Botschaft sprach. Er hatte deutlich gemacht, daß beinahe vierundzwanzig Stunden vergangen waren, ohne daß Lasko irgendein Ergebnis vorweisen konnte. Und mit dieser mageren Ausbeute wollte er nicht vor den amerikanischen Konsul treten.
«Ein Mord und ein vermißtes Kind», sagte der Chief Superintendent zum hundertstenmal, als könnte er wie die Hexen in Macbeth die schrecklichen Vorfälle durch ständiges Beschwören wieder aus der Welt schaffen. «Ein Mord und ein –»
«Es besteht überhaupt kein Grund zu der Annahme, der Junge würde nicht wiederauftauchen. Er ist schon öfter abgehauen. Es würde mich nicht wundern, wenn er innerhalb der nächsten paar Stunden ins ‹Hilton› spazierte.» Lasko sah auf seine Digitaluhr, als wollte er sie alle so lange festhalten, bis sich seine Prophezeiung bewahrheitet hatte. «Die beiden Dinge brauchen in keinem Zusammenhang zu stehen.»
«Nein, natürlich nicht», sagte Sir George mit einem ziemlich unangenehmen Lächeln zu seinem Detective Sergeant: «Es könnten einfach nur zwei Morde sein.» Schon sein Blick war tödlich genug.
Lasko, der willens schien, Sir Georges Abneigung gegen das Entkleiden zu teilen, trug immer noch seine Melone. Sie saß ihm tief in der Stirn. «Es ist noch zu früh, um –»
«Noch zu früh? Erzählen Sie das mal der amerikanischen Botschaft. Wir haben es schließlich mit Amerikanern zu tun, Mann», wiederholte er, als ob Lasko sich noch nicht über die verschiedenen Nationalitäten klargeworden wäre. «Wir haben es nur Gott und der britischen Presse zu verdanken, daß diese verdammte Sache noch keine Schlagzeilen gemacht hat. Ich erschauere bei dem Gedanken, wie die amerikanischen Touristen in dieser Stadt reagieren würden –»
Jury verkniff sich die Bemerkung, daß englisches Blut so rot sei wie jedes andere und daß Dinge wie Vergewaltigung und Körperverletzung, Mord und Entführung für Amerikaner kein Fremdwort seien.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, wandte Sir George den Kopf nach Jury um – einen sehr edlen Kopf mit bereits ergrautem Haar und Schnurrbart. «Im übrigen habe ich ein ziemlich langes Telefongespräch mit Ihrem Chef geführt … wie heißt er noch gleich?»
«Racer.»
«Ja. Racer. Wie Sie wissen, haben wir Ihre Abteilung nicht um Verstärkung gebeten, Mr. Jury.»
«Ja, ich weiß», sagte Jury lächelnd. Lasko würde erklären müssen, warum Jury mit der Kriminalpolizei Stratford zusammenarbeitete.
«Ich habe Superintendent Jury gebeten, mit den Farradays zu sprechen, weil Farraday nichts mit der Provinzpolizei zu tun haben will und immer nur nach Scotland Yard schreit. Sie glauben, neben dem FBI gibt es auf der ganzen Welt nur noch Scotland Yard. Sie haben noch nie was von der französischen Sûreté gehört», kam es unter Laskos Hut hervor.
«Schon gut, schon gut», sagte Sir George und hob die Hände, wie um eine Aufzählung der Polizeikräfte rund um den Globus zu verhindern. «Mr. Jury hat freundlicherweise ausgeholfen. Ihr Chef –» er wandte sich wieder an Jury – «war indessen ein wenig verärgert, daß Sie sich ohne amtliche Order eingemischt haben –»
Als Sir George sich anschickte, Racers Kommentare zu wiederholen, schaltete Jury einfach ab. Diese Litanei kannte er zur Genüge.
Nachdem Sir George auf diese Weise noch einmal betont hatte, daß die Polizei von Warwickshire durchaus in der Lage sei, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, schien er ganz zufrieden. Mit einem zögernden Kopfnicken fügte er noch hinzu: «Er sagte, Sie sollten ihn auf jeden Fall anrufen.»
«Sehr wohl.» Jury hatte sich also ohne ausdrücklichen Befehl von Chief Superintendent Racer nicht von der Stelle zu rühren. Nun ja, er würde ihn bestimmt irgendwann im Laufe der nächsten Tage einmal anrufen.
Düster bemerkte Sir George: «Zwischen dem Mord an dieser Frau und dem Jungen muß einfach ein Zusammenhang bestehen.»
Jury pflichtete ihm insgeheim bei.
«Wer gehört denn sonst noch zu dieser verdammten Reisegesellschaft? Und wer leitet sie?»
Lasko blätterte in dem Notizbuch auf seinem Schreibtisch. «Der Leiter ist ein Mann namens Valentine Honeycutt –»
«Großer Gott, diese Amerikaner scheinen eine ausgesprochene Vorliebe für blumige Namen zu haben –»
«Er ist kein Amerikaner», sagte Lasko. «Er ist Engländer.»
Sir George brummte: «Macht nichts. Haben Sie mit ihm gesprochen?»
Ohne auch nur einen Blick mit Jury zu wechseln,
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