Inspektor Jury küsst die Muse
aber nicht gewillt, die Waffen zu strecken.
« Miss Clingmore», sagte Racer, «ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie künftig anklopften. Und schaffen Sie die räudige Katze da raus.»
«Entschuldigung», sagte sie, befeuchtete ihre Finger und klebte sich eine Locke an die Wange. «Sie sollen das hier sofort unterzeichnen. Der Berufungsausschuß braucht es.» Sie stürzte hinaus, vergaß zwar, die Katze mitzunehmen, nicht aber, Jury zuzuzwinkern. Er mochte Fiona und ihre immer besser inszenierten Auftritte. Er zwinkerte zurück.
Die Katze strich um ihre Beine herum und sprang dann ohne Umschweife auf Racers Schreibtisch, wo sie sich, massiv wie ein Briefbeschwerer, niederließ.
Racer verscheuchte sie, indem er offenbar speziell bei Katzen wirksame Flüche ausstieß, und setzte sich. «Was zum Teufel hat es mit der Reisegesellschaft auf sich, die Sie im ‹Brown’s› einquartiert haben? Besteht da irgendein Zusammenhang?»
«Ich weiß es nicht», sagte Jury. «Ich weiß nur, daß die beiden, die in Stratford ermordet wurden, und der vermißte Junge dazugehörten.»
Racer schnaufte. «Und haben Sie das auch den Presseleuten erzählt, Jury? Die sind wie Lemminge die M-40 rauf- und runtergezogen.»
«Ich verkehre nicht mit der Presse. Das überlasse ich Ihnen.»
«Nun, irgend jemand muß verdammt noch mal geredet haben! Vermutlich diese verfluchten Idioten in Stratford.»
Jury rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl herum und streckte die Hand nach unten aus, um die Katze zu streicheln, die seine Abneigung gegen Racer offenbar teilte. «Ich hielte es für das beste, wenn Sergeant Wiggins und ich die Erlaubnis erhielten, den Fall weiter zu bearbeiten, bevor ein weiterer Mord passiert», sagte er ruhig.
«Ein weiterer Mord? Was meinen Sie damit?»
«Daß der Mörder noch nicht fertig ist. Die Botschaft wurde noch nicht ganz übermittelt.»
Racer zog die Augenbrauen hoch. «Würden Sie mir das bitte erklären?»
«Nun, Sie haben doch das Gedicht gelesen. Bei Miss Bracegirdles Leiche fand man zwei Verse, bei der kleinen Farraday ebenfalls zwei. Die Strophe hat aber noch drei weitere Verse.»
Und um Racers Blutdruck noch mehr in die Höhe zu treiben, fügte Jury hinzu: «Danach kann er natürlich mit einer neuen Strophe weitermachen.»
Der Gedanke an eine Mordserie von der Länge einer Perlenkette oder eines Gedichts mit zwölf Strophen brachte anscheinend sogar Racer zur Vernunft.
«Sie glauben, es wird einen weiteren Mord geben.» Er sah von Jury zu Wiggins und wieder zurück zu Jury. «Warum zum Teufel sitzen Sie beide dann noch hier und vergeuden meine Zeit? Machen Sie, daß Sie hier rauskommen.»
22
Sie dachte, ich wüßte nicht, was sie alles trieb? Amelia Blue Farraday stand vor einem Stripteaselokal in Soho und betrachtete die lebensgroßen Plakate. In einem Schuppen wie diesem wäre sie eines Tages gelandet , dachte sie und starrte vielleicht länger auf die Plakate, als nötig war, um die frei herumlaufenden Lustmolche und Wüstlinge nicht auf sich aufmerksam zu machen.
«Hallo, Süße.»
«Wohin soll’s denn gehen?»
Die Fragen kamen von einem schlaksigen Burschen mit pomadigem, zurückgekämmtem Haar und dessen dickem Freund, der neben ihm stand und seine Gelenke knacken ließ. «Wir könnten viel Spaß miteinander haben.»
Amelia musterte sie abschätzig. In Georgia würde man Abschaum wie diesen mit Füßen treten. Sie würdigte sie keiner Antwort. Sie versuchte auch nicht, um sie herumzugehen; das würde so aussehen, als machte sie ihnen Platz. Sie streckte einfach die Arme aus, schob die beiden zur Seite und ging weiter die Soho Street hinunter.
Vielleicht besser, daß sie tot ist , dachte Amelia. Vielleicht besser. Sie würde sich diesen beiden Nullen hingegeben haben, solange sie nur den angemessenen Preis entrichtet hätten. Und mit diesem Gedanken, der weder Scham noch Schuldgefühle in ihr hervorrief, blieb Amelia erneut vor den riesigen Schaukästen eines heruntergekommenen Kinos stehen. Ich hätte sie noch auf jedem Poster in der Second Avenue zu sehen bekommen. Großer Gott, dieses Kind machte auch vor nichts halt …
Gelangweilt von Limonade und Bier auf der Veranda, gelangweilt von James C.s. unbeholfenen Liebeskünsten, hatte Amelia sich auf «Gelegenheitsaffären» eingelassen, wie sie es nannte – auf den ersten besten, der ihr über den Weg lief. Doch sie hatte es zu ihrem Vergnügen getan, nicht für Geld – obwohl es mitunter kleine Geschenke gegeben hatte –,
Weitere Kostenlose Bücher