Inspektor Jury küsst die Muse
seinen Mantel, als wäre es Januar und nicht Juli. Sie hatte schon lange nicht mehr an ihre Eltern, an ihren Pa gedacht. Er war irgendwo da oben im Himmel und schlief seinen Rausch aus, wie der Betrunkene da. Sie waren umherziehende Landarbeiter gewesen, weiter nichts, obwohl sie sich für James C. natürlich ein passenderes Elternhaus ausgedacht hatte. Doch das mußte sie ihm lassen – er war kein Snob. Aber selbst James C. hätte gezögert, eine Frau von jener Sorte zu heiraten, die viele Leute noch immer als weißen Abschaum bezeichneten. Amelia hob den Kopf. Es galt, in dieser Welt zu überleben. Und seinen Spaß dabei zu haben. Sie ging beschwingt weiter, die große Tasche, die sie letztes Jahr in Nassau gekauft hatte, über der Schulter. Spaß macht doch das Leben aus, oder? War es ihre Schuld, wenn sie über Honey Belles Tod nicht trauriger sein konnte? Es war einfach Schicksal. Man stirbt so, wie man lebt, das ist alles. Irgendein verrückter Sexualverbrecher trieb sich in dieser blöden kleinen Stadt herum und hatte sich zufällig zwei Frauen von derselben Reisegesellschaft auserkoren – Amelia begann ein wenig zu schwitzen. Wenn ihr Mann, wenn James C. nun doch etwas über Honey Belle oder gar über sie selbst erfahren hatte! Quatsch. Sie verlangsamte ihre Schritte. Dennoch – woher sollte sie wissen, ob dieser Detektiv nicht auch zu ihm gegangen war, um die Informationen gleich zweimal zu versilbern? Und überhaupt, dachte sie, woher soll ich wissen, ob dieser Mann nicht von James C. beauftragt war? … Vielleicht läßt er mir auch nachschnüffeln? Wieder blieb sie abrupt stehen. Sie versuchte sich zusammenzunehmen: Amelia Blue Farraday, du hast einfach nur Schiß, Herzchen. So ein Quatsch. Nachdem sie sich so Mut gemacht hatte, setzte sie ihren Spaziergang durch den Berkeley Square Park fort.
Sie kam nicht weit. Im Park herrschte tödliche Stille, außer ihr schöpfte um diese Zeit niemand frische Luft; das Vogelgezwitscher verstummte, erklang erneut und verstummte wieder, als würde es sich dem Rhythmus ihrer Schritte anpassen. Der Arm, der sich plötzlich um ihren Hals legte und ihn nach hinten bog, steckte in alter Wolle. Bevor sie spürte, wie sich etwas in ihre Kehle grub, schoß ihr ein Satz durch den Kopf: Man stirbt, wie man gelebt hat.
Eine kleine Gruppe von Polizisten stand im Berkeley Square Park. Die Parkeingänge waren abgesperrt, und Polizisten dirigierten den Fußgängerverkehr. Angesichts der Aufforderung weiterzugehen blieben die Passanten natürlich erst recht stehen. Binnen zehn Minuten hatte sich eine Kette aus Neugierigen um den Park gebildet. Fünfzehn Minuten später war die Kette schon sechs Reihen tief. Langsam fahrende Autofahrer verursachten ein höllisches Durcheinander; viele parkten ihre Autos und stiegen aus, um ihre Schaulust zu befriedigen. Eine dreiviertel Stunde nach Ankunft der Polizei hatte man den Eindruck, halb London hätte sich hier versammelt.
Jury sah auf den einst weißen, jetzt roten Hosenanzug herab. Der Schlächter hat saubere Arbeit geleistet, dachte er. Sie war kaum noch zu erkennen, nur ihr weißblonder Haarschopf war wie durch ein Wunder nicht blutgetränkt, vielleicht weil der Kopf so komisch schräg hing, nachdem man ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Das Gras um sie herum war rostbraun und noch immer klebrig. Ein langer Schnitt verlief vom Schulterblatt den ganzen Körper entlang und legte die Magenwand und die inneren Organe frei.
Wiggins sah Jury an. «Sieht sie genauso aus wie die beiden in Stratford, Sir?»
Jury nickte. Den Mann von der Spurensicherung fragte er: «Was haben Sie bis jetzt gefunden?»
Der Mann drehte sich zu Jury um und blickte ihn über seinen Notizblock hinweg an. «Eingeweide», sagte er ruhig. Er sah fast schnieke aus in seinem gutgearbeiteten, passend trauermäßig dunklen Anzug.
«Das sehe ich. Das Blut muß ja überall hingespritzt sein –»
Der Tatortsachverständige nickte. «Auch der Mörder hat einiges abbekommen.» Er wies mit dem Kinn über die Schulter zurück. «In einer Mülltonne da drüben haben wir einen alten Mantel gefunden.»
«Sonst noch etwas? Vielleicht irgendeine Botschaft?»
«Sie haben es erraten, Superintendent. Auf einem Theaterprogramm von Wie es euch gefällt. Geben Sie mir noch fünf Minuten, dann haben Sie und der Arzt freie Bahn.» Er vervollständigte seine Notizen, und der Fotograf packte die Kamera ein.
Der Pathologe kniete neben der Leiche; er hielt ein
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