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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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ein kurzes Nicken, ihr ernster werdender Gesichtsausdruck. Bemerkenswert gut ausgebildetes Personal, dachte Jury. Ihre jeweilige persönliche Verwunderung, Betroffenheit oder Aufregung behielten sie für sich. «Diese Mrs. Farraday hat gestern nacht noch ziemlich spät das Hotel verlassen. Sind Sie hiergewesen?»
    Die junge Frau schüttelte den Kopf. Sie schien weniger das vorzeitige Ableben eines Gastes zu bedauern als ihre Abwesenheit zur fraglichen Zeit, was es ihr unmöglich machte, dem Superintendent weitere Auskünfte zu geben. «Das muß meine Kollegin gewesen sein, die nachts Dienst hat –» Sie machte eine Bewegung, als wollte sie den Hörer abnehmen. «Möchten Sie, daß ich sie anrufe?»
    Jury schüttelte den Kopf. «Bitten Sie sie nur, mich anzurufen, falls sie sich in bezug auf Mrs. Farraday an etwas erinnert.» Er legte seine Visitenkarte auf den Tisch. «Dieser Mr. Schoenberg. Harvey. Haben Sie auch eine Reservierung für seinen Bruder?»
    Erneut wanderte ihr diskreter Blick über die Kartei. «Haben wir. Ein Mr. Jonathan Schoenberg hat sich für heute nachmittag angesagt.» Die hellgrünen Augen sahen ihn erwartungsvoll an, als hoffte sie, nun doch noch etwas zur Aufklärung beigetragen zu haben.
    «Danke. Sie haben mir sehr geholfen.» Jury lächelte wieder.
    Jetzt sah sie ihn schon nicht mehr ganz so diskret an.

23
    Auf einer Reise durch die Geschichte mit Harvey L. Schoenberg glaubte man, einem Pferd mit Scheuklappen zu folgen. Das Pferd sah alles, was unmittelbar vor ihm lag, und solange es sich nicht darum kümmern mußte, was rechts oder links von ihm geschah, war es seiner Aufgabe gewachsen. Es kam wirklich wunderbar zurecht – kannte jeden Pflasterstein, jede Kurve, jeden Laternenpfahl.
    «Traitor’s Gate», sagte Harvey verzückt. Er sprach noch immer von dem Anblick, der sich ihnen geboten hatte, als sie über die massiven Bögen der Tower Bridge blickten. Nun standen sie in Southwark auf der anderen Seite der Themse, am Ende der neuen London Bridge, wo man sie auf Harveys Drängen hin abgesetzt hatte. «Stellen Sie sich bloß die Köpfe vor, die dort oben aufgespießt waren!»
    «Wenn es Ihnen nichts ausmacht, lieber nicht. Öffentliche Hinrichtungen und dergleichen haben mir nie zugesagt. Ebenso wenig wie Hetzjagden.»
    «Kommen Sie, Mel! Wo bleibt Ihr Sinn für Geschichte?»
    «In meinem Magen.»
    Doch das Feuer der Begeisterung in Harvey ließ sich nicht löschen; anders dagegen stand es mit seinem Durst. «Gehn wir in einen Pub. Fast genau an der Stelle, an der wir jetzt stehen, lag früher die sehr beliebte ‹Bärenschenke›.» Harvey hatte sich umgedreht und zeigte in die Ferne. «Da drüben lag die Tooley Street –»
    «Da drüben liegt noch immer die Tooley Street, wenn ich mich nicht täusche.»
    «Jaja, ich versuche Ihnen doch nur zu erklären, wie es damals aussah, als Marlowe durch diese Straßen ging. Es gab einen Haufen Pubs in dieser Richtung –»
    «Ich bin sicher, auch heute noch.»
    «– Es gab sogar einen ‹Schwarzen Schwan› hier; nördlich vom St. Thomas Hospital –»
    «Es gibt immer einen ‹Schwarzen Schwan›. ‹Schwarze Schwäne› sind überall auf den Britischen Inseln zu finden.»
    Harvey stieß einen Seufzer aus und faltete die alte Karte von Southwark zusammen, die er zu Rate gezogen hatte. Sie gingen die Southwark Street entlang. Harvey schüttelte den Kopf – ein Mann, der die Welt nicht versteht. «Sie sind einfach nicht in der Stimmung für diese kleine Wallfahrt, Mel.»
    «Ich dachte, wir würden nach Deptford gehen. Zu dem Wirtshaus von Mistress Bull, wo dieser schnöde Mord passiert ist.»
    «Machen wir ja auch. Aber zuerst müssen wir uns Southwark ansehen. Überlegen Sie doch, wieviel Zeit Marlowe hier verbracht hat.» Sie waren eine Steintreppe hinabgestiegen und sahen jetzt zur beeindruckenden Fassade der Southwark Cathedral empor. Schoenberg warf einen Blick auf die Karte und rückte den Riemen seines Ishi zurecht. «Das hier war die Kirche von St. Mary Overies. Kennen Sie die Geschichte? Wirklich traurig. Da drüben lagen die Bordelle.»
    «Bordelle?»
    «Das Amüsierviertel. Southwark war ein richtiger Sündenpfuhl. Kriminelle flüchteten aus der Stadt hierher, um der Justiz zu entgehen – so wie man in den USA die Staatsgrenzen überquert. Ich frage mich, wo Hog Lane liegt. Da hat Kit sich mit Bill Bradley duelliert.»
    «Marlowe duellierte sich ständig. Daher verstehe ich auch nicht Ihren unerschütterlichen Glauben an diese

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